Akte X
Hotelzimmer mit seinen vier weißgetünchten Regipswänden, die im fahlen Licht des
Einundfünfzig-Zentimeter-Fernsehgerätes aufleuchteten, schien ihn anzustarren. Abgesehen von dem Fernsehgerät, enthielt der Raum eine Anrichte aus Rotholz, die offenbar antik aussehen sollte, einen Schreibtisch mit Telefon und Faxgerät und einen begehbaren Wandschrank, den Mulder mit blauen und grauen Anzügen gefüllt hatte. Mulders Reisetasche lag unter dem Schreibtisch, Waffe und Brieftasche neben dem Telefon, und die Riemen seines Schulterhalfters hingen hinter dem Faxgerät von der Tischplatte herab, wo sie sacht in der kühlen Brise der Ventilatoren in der Fußleiste hin und her baumelten. Zurück auf die Straße, eine neue Variation zu diesem Thema. Mulder und Scully hatten das schon tausend Male hinter sich.
Gerade, als Mulder aufstehen und seine Sachen packen wollte, erregte ein Fernsehbeitrag seine Aufmerksamkeit. Er starrte auf den Bildschirm und vergaß sogleich das Pulsieren in seinem mißhandelten Kinn. Eine Reporterin mit graumeliertem, blondem Haar sprach in ein Mikrophon, während sie einen Gang entlang schritt, der wie ein Krankenhauskorridor aussah. Hinter ihr war ein Spinnennetz aus polizeilichen Absperrbändern erkennbar. Trotz des gelben Klebstreifens konnte Mulder den Katastrophenschauplatz in dem Raum auf der anderen Seite des Ganges sehen: die zerrissene, blutbefleckte Matratze, das Infusionsgestell, das geradewegs aus der Wand hervorragte, das zerstörte Fernsehgerät, die eingeschlagenen Fensterscheiben und, noch beunruhigender als alles andere, die sonderbare Einbuchtung in der halb geöffneten Holztür. Genau diese Einbuchtung hatte Mulders Aufmerksamkeit erregt, denn sie kam ihm irgendwie vertraut vor, als würde er sie jeden Augenblick zuordnen können.
»Die örtlichen Behörden haben mit Entsetzen auf das Ausmaß der Gewalt reagiert, die zu der gestrigen Tragödie geführt hat«, teilte die CNN-Reporterin ihrem Mikrophon mit eintöniger Stimme mit. »Die Suche nach Professor Stanton ist derzeit in vollem Gang, doch für die Familie der Krankenschwester Teri Nestor kann auch das kaum ein Trost sein . . .«
Das Bild veränderte sich, als die Reporterin fortfuhr, und Mulder starrte plötzlich in ein Paar intelligent blik-kender blauer Augen. Der Mann mit dem schütteren braunen Haar und den überdimensionierten Ohren, der auf dem vergrößerten Foto abgebildet war, sah aus wie Mitte Fünfzig. Trotz des eingeschränkten Bildausschnittes konnte Mulder erkennen, dass der Mann recht zierlich war. Die spitzen Schultern unter der lehrertypischen Tweedjacke waren wenig beeindruckend, und sein Nacken, der an den eines Haushahns erinnerte, war dürr und scheinbar völlig frei von Muskeln und Sehnen.
Während die Reporterin einige flüchtige Details über den kleinen Professor und den schrecklichen Mord an der jungen Krankenschwester herunterleierte, schweiften Mulders Gedanken zurück zu dem Augenblick, als der Kolumbianer in der Scheune mit der Schaufel zugeschlagen hatte. Er erinnerte sich an das grausame Glitzern in den Augen des Mannes. Erneut wandte er sich dem Foto Professor Stantons zu, und er starrte noch immer in die freundlichen blauen Augen, als das Bild wieder wechselte.
Dieses Mal erhielt er einen Überblick über das verwüstete Krankenzimmer. Die Matratze, die Videokonsole, der zerstörte Fernseher, die zerbrochenen Fensterscheiben und die zerschlagene, halboffene Tür. Er trat näher an den Bildschirm heran, den Blick konzentriert auf die sonderbar geformte Ausbuchtung in dem hölzernen Türblatt gerichtet, und plötzlich erkannte er, was er vor sich sah.
In dem schweren Eichenholz zeigte sich der Abdruck einer menschlichen Hand, die die Tür gleich um mehrere Zentimeter eingedrückt hatte. Die Handfläche war geöffnet, die Finger gespreizt. Mulders Augen weiteten sich, während eine Frage ihn beschäftigte. Wie viel Kraft mochte notwendig sein, um den Abdruck einer Hand in einem Türblatt aus schwerem Eichenholz zu hinterlassen?
Er wandte sich um und betrachtete die offenstehende Tür des Wandschrankes. Als die CNN-Reportage endete und die blonde Reporterin einem übergewichtigen Sportreporter wich, ging Mulder zu dem Schrank und legte seine Hand flach auf das kühle Holz. Mit angespannten Fingern versetzte er der Tür einen leichten Stoß. Dann schlug er noch einmal zu, dieses Mal fest genug, damit die Schockwellen des Aufpralls bis in seinen Ellbogen zurückwirkten. Dann zog er die
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