Akte X Novel
auch erklären, was die Isfahan-Gruppe von ihr wollte und warum Webster und Saunders uns mitten in der Nacht zu sich zitiert haben.“
„Sie könnten recht haben“, räumte Mulder bereitwillig ein.
Zu bereitwillig, wie Scully fand. „Warten Sie“, sagte sie, als sie eine Tür mit der Aufschrift
ELLEN BLEDSOE – UNTERSUCHUNGSBEAMTIN erreichten. „Sie denken, ich könnte recht haben?“ Fox Mulder folgte fast ausschließlich seinen Instinkten, selbst dann, wenn sie jeder wissenschaftlichen oder rationalen Erkenntnis zuwiderliefen.
„Sicher“, entgegnete Mulder leichthin. „Sie müssen nur beweisen, daß Graves noch am Leben ist.“
Er klopfte an die Tür zum Büro der Untersuchungsbeamtin.
Fünf Minuten später starrten die beiden Agenten in das ausdrucklose Gesicht der obersten Untersuchungsbeamtin von Philadelphia County. Ellen Bledsoe war eine afroame rikanische Frau Mitte Vierzig, deren spröde, düstere Art an einen Bestattungsunternehmer erinnerte. Als Scully ihr erzählte, sie hätten gute Gründe für die Vermutung, daß Graves seinen Tod nur vorgetäuscht haben könnte, blinzelte sie nur kurz. Dann sprach sie mit großem Nachdruck, wobei sie jedes Wort so überdeutlich artikulierte, als hätte sie es mit Idioten zu tun.
„Howard Graves ist sehr tot“, konstatierte sie.
Scully ließ sich nicht so einfach abweisen. „Dürfen wir den
Autopsiebericht sehen?“
Bledsoe schob ihr den Bericht über den Tisch. „Tun Sie sich
keinen Zwang an.“
Scully überflog die Zeilen. „Todesursache“, las sie laut.
„Arterienblutung...“
„Vier von sechs Litern seines Blutes sind durch den Abfluß
geflossen“, gab Bledsoe eine anschauliche Beschreibung des
Vorgangs.
„Hier scheinen einige Bluttests zu fehlen“, bemerkte Scully. „Wir führen diese Tests nur durch, wenn der Verdacht
besteht, es könnte sich um Mord handeln“, erklärte die
Untersuchungsbeamtin.
Mulder räusperte sich. „Dann nehme ich an, Sie haben auch
keinen Gebißvergleich anfertigen lassen?“
„Wozu?“ konterte Bledsoe, deren Geduld allmählich
erschöpft war. „Er war es.“
„Und woher wissen Sie das?“ erkundigte sich Scully. Bledsoes Antwort fiel ausgesprochen trocken aus: „Es stand
auf dem Etikett an seinem Zeh.“
„Wer hat den Leichnam identifiziert?“ wollte Mulder wissen. Scully schaute wieder in den Bericht. „Lauren Kyte.“ Die beiden Agenten tauschten vielsagende Blicke. Diese
Erkenntnis schien Scullys Verdacht zu erhärten. Wenn Lauren
Kyte und Graves dessen Tod gemeinsam vorgetäuscht hatten,
mußte Lauren natürlich diejenige sein, die seinen Leichnam identifizierte. Scully fragte sich, wessen Leiche die junge Frau
tatsächlich identifiziert hatte.
„Ist mir irgend etwas entgangen?“ fragte Ms. Bledsoe. „Und Howard Graves wurde verbrannt“, beantwortete
Mulder statt der Frage Scullys unausgesprochene Gedanken.
„Also gibt es keine Möglichkeit mehr, einen Gebißvergleich
oder eine DNS-Analyse durchzuführen. Nun können wir nicht
mehr beweisen, ob es tatsächlich Howard Graves war, der
gestorben ist.“
Scully blätterte in dem Bericht. „Doch, das können wir“,
sagte sie. Ihr Tonfall verriet Überraschung. „Sein Gewebe und
seine Organe wurden gespendet.“
Bereits eine Stunde später befanden sich die beiden Agenten in der Gewebebank des Universitätskrankenhauses von Pennsylvania. Scully fühlte, wie sie sich entspannte, als sie die vertraute Atmosphäre der Laboratorien betrat. Regale mit Teströhrchen, Mikroskopen, Zentrifugen und Monitoren – das war die Sorte Instrumente, denen sie vertraute und mit denen Tests durchgeführt, Messungen vorgenommen und zuverlässige Schlußfolgerungen gezogen werden konnten. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr dieser Fall sie verunsicherte.
Nebenan, in einem sterilen Labor, zog ein Techniker mit dicken Gummihandschuhen und einem Schutzanzug samt Helm ein Gestell mit darin gelagerten Gewebeteilen aus einem gasgekühlten Aufbewahrungsbehälter, während Mulder und Scully ihn durch ein Sichtfenster beobachteten. Schließlich entnahm er dem Gestell die Lade mit der Nummer 312.
„Howard Graves weilt inzwischen in fünf verschiedenen Menschen“, erklärte Dr. Phillips, der Betreiber des Labors, der die beiden Agenten begleitet hatte.
Phillips zog die Notiz auf seinem Klemmbrett zu Rate. „Die Organe wurden sofort nach seinem Tod entnommen. Die Nieren wurden nach Boston geschickt, die Leber nach Dallas und die Hornhaut nach Portland, Oregon. Alles
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