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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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zurechtgefunden. Man sah ihn bald in der Kirche, mitsingend im Chor, bald auf dem Markt, feilschend mit altgläubigen Imkern um den Preis für Honig, bald in Olimpiadas Salon, plaudernd mit dem Advokaten Korsch, der in unserem Gouvernement als erster Fachmann für Erbangelegenheiten galt.
    Es war verblüffend, wie ein Mann wie Selig es verstand, mit dem wilden Kutscher Bubenzows umzugehen und gar Freundschaft zu halten. Dieser Murad Dshurajew wurde in Sawolshsk der Tscherkesse genannt, obwohl er kein Tscherkesse war, sondern einem anderen Bergstamm angehörte. Aber wer kannte sich schon bei den Schwarzbärtigen aus! Murad war bei Bubenzow nicht nur Kutscher, sondern auch Kammerdiener und manchmal Leibwächter. Niemand wusste so recht, weshalb er seinem Herrn so hündisch ergeben war. Bekannt war nur, dass er schon lange bei Bubenzow war, der ihn von seinem Vater geerbt hatte. Bubenzow senior, General im Kaukasus, hatte vor langer Zeit, vor zwanzig oder dreißig Jahren, den jungen Murad vor Bluträchern gerettet und nach Russland mitgenommen. Vielleicht gab es da ja noch etwas anderes, Besonderes, aber das fanden die Sawolshsker nicht heraus, und Murad zu fragen fehlte ihnen der Mut. Allein schon sein Aussehen flößte Furcht ein: kahl rasierter Kopf, das Gesicht bis an die Augen mit dichten schwarzen Haaren zugewachsen, und die Zähne konnten einen Arm bis zum Ellbogen abbeißen. Russisch sprach er noch immer wenig und schlecht. Seinen mohammedanischen Glauben hatte er beibehalten, was ihm missionarische Bemühungen von Tichon Selig eintrug, einstweilen ohne Resultat. Er kleidete sich kaukasisch: alter Halbrock, geflickte weiche Lederschuhe, im Gürtel ein riesenlanger silberbeschlagener Dolch. Sein krummbeiniger Schaukelgang und seine breiten Schultern ließen bullige Kräfte vermuten, die Männer fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt, die einfachen Frauen beklommen. Seltsamerweise genoss Murad bei Köchinnen und Stubenmädchen den Ruf eines interessanten Kavaliers, obwohl er sie grob und sogar brutal behandelte. In der zweiten Woche nach Bubenzows Ankunft in Sawolshsk taten sich die Feuerwehrleute der Stadt mit den Fleischern zusammen, um dem »Muselmann« eine Lehre zu erteilen und ihm die Lust auf die Mädchen anderer abzugewöhnen. Murad aber trieb ganz allein das Dutzend Angreifer zu Paaren, verfolgte sie lange durch die Straßen, erwischte den Fleischer Fedka und würde ihn gewiss zu Tode geprügelt haben, wenn nicht Tichon Selig hinzugekommen wäre.
    Zu Mord und Totschlag kam es also nicht, aber etliche Städter mit Weitblick wurden nachdenklich, denn sie sahen nach diesem Skandal, besonders da die Polizei nicht wagte, dem Radaubruder Einhalt zu gebieten, das Herannahen wirrer Zeiten voraus. In der Atmosphäre des Gouvernements grummelte es, und über den schwarzen Himmel zuckte, lautlos noch, unheildrohendes Wetterleuchten.
    Aber haben wir uns vielleicht gar zu weit von der Grundlinie unserer Erzählung entfernt? Schwester Pelagia hat schon längst durch das weit geöffnete Tor den Gutspark von Drosdowka betreten, und wir müssen uns beeilen, ihr zu folgen.

Nette Menschen
    Der Regen ereilte Pelagia fünfzig Schritte vom Tor. Er strömte reichlich und fröhlich, und er ließ sogleich erkennen, dass er vorhatte, nicht nur die Kutte und das Tuch der Nonne, sondern auch ihr Unterhemd und sogar ihr Strickzeug in der Gürteltasche zu durchnässen. Pelegia bekam es mit der Angst. Sie hielt Umschau, ob jemand in der Nähe wäre, raffte die Röcke und rannte in beneidenswertem Tempo den Weg entlang, wozu sie durch die englische Gymnastik befähigt war, die sie, wie schon erzählt, in der Eparchialschule unterrichtete.
    Nachdem sie die rettende Allee erreicht hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an den Stamm einer alten Ulme, deren dichte Krone sie zuverlässig schützte, wischte die betropften Brillengläser blank und blickte zum Himmel.
    Da gab es was zu sehen. Die nähere Hälfte des hohen Firmaments war schwarzviolett, aber nicht von der dumpfen, düsteren Färbung wie an hoffnungslos verregneten Tagen, sondern mit öligem Schimmer, als hätte ein himmlischer Gymnasiast aus Übermut lila Tinte auf ein hellblaues Tischtuch gegossen. Bis zu der ferneren Hälfte des Tischtuchs hatte sich der Fleck noch nicht ausgebreitet, dort schien noch immer die Sonne, und an jeder Seite wölbte sich ein Regenbogen, der eine heller und kleiner, der andere trüber und dafür größer.
    Eine Viertelstunde später aber hatte

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