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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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nicht.
    »Der Bischof sendet Ihnen ein Schreiben«, sagte sie und reichte Frau Tatistschewa den Brief.
    »Warum sagst du das nicht gleich? Gib her.«
    Marja Tatistschewa sah die Nonne nun genauer an, nahm die Brille und die ganze Haltung zur Kenntnis und änderte ihren Ton:
    »Geben Sie ihn mir, Mütterchen, ich will ihn lesen. Und ihr alle geht zu Abend essen. Ihr müsst hier nicht die Besorgten spielen. Und Sie gehen bitte auch essen, Mütterchen. Tanja, mach ihr ein Zimmer fertig, das Eckzimmer, in dem neulich dieser Selig übernachtet hat. Das passt gut zusammen. Er Selig, sie selig, denn sie ist ja die Braut Christi. Wenn Bubenzow wiederkommt, wie er angekündigt hat, quartieren wir Selig im Seitenflügel ein. Hol ihn der Kuckuck, er ist mir zuwider.«
    Die redselige Tanja brachte die Besucherin in ein sauberes, helles Parterrezimmer, dessen Fenster in den Park blickte, und erzählte ihr von dem Selig, der vor ihr darin gewohnt hatte. Pelagia wusste, wer das war (wie sollte sie nicht, wo doch in den letzten Wochen im Bischofskloster nur noch von dem Synodalinspektor und seinen Gehilfen die Rede war), hörte aber aufmerksam zu. Tanja kam jedoch gleich auf den Tscherkessen zu sprechen, der zwar Furcht einflöße, aber auch ein Mensch sei, der sich nach einem freundlichen Wort sehne.
    »Als ich ihn abends auf dem Hof traf, hab ich nur so gezittert. Er hat mich mit seinen schwarzen Augen angeguckt, und plötzlich hat er mich umgefasst, hier so. Ich bin ganz erstarrt, und er . . .«, plauderte Tanja halb flüsternd, während sie das Kissen aufschüttelte, doch dann kam sie zur Besinnung. »Oi, Mütterchen, was red ich da! Ihr dürft doch so was gar nicht hören als Nonne!«
    Pelagia lächelte dem netten Mädchen zu. Sie wusch sich nach dem Fußweg und bürstete den Straßenstaub von der Kutte. Dann stand sie ein Weilchen am Fenster und blickte in den Park. Der war wunderschön, wenngleich verwildert. Oder war er gerade deshalb schön?
    Auf einmal hörte sie ganz in der Nähe Stimmen. Zuerst eine Männerstimme, gedämpft und vor starker Erregung überkippend:
    »Ich schwöre dir, ich tu’s! Danach kannst du nicht mehr hier leben! Ich werde dich zwingen wegzufahren!«
    Schwester Pelagia hatte in ihrem Leben nur sehr wenige Liebeserklärungen gehört, aber das reichte aus, um sogleich zu erkennen – das hier war die Stimme eines wahnsinnig Verliebten.
    »Wenn ich wegfahre, dann nicht mit Ihnen«, sagte eine Mädchenstimme. »Und ob ich wegfahre, ist noch die Frage.«
    Du Ärmster, dachte Pelagia, sie liebt dich nicht.
    Sie wurde neugierig. Sacht öffnete sie den Fensterflügel und linste hinaus.
    Gleich rechts von ihrem Zimmer war die Hausecke. Das junge Mädchen stand genau an der Kante, so dass ihr Rücken nur halb zu sehen war. An dem rosa Kleid aber erkannte Pelagia, dass es Naina Telianowa war. Schade, der Mann war nicht zu sehen.
    In diesem Moment läutete die Glocke zum Abendessen.
    Der Tisch war auf der geräumigen Veranda gedeckt, die mit der Balustrade und der Vortreppe an den Park grenzte. Hinter den Bäumen war die Weite das Flusses zu ahnen, der seine Wasser am Hochufer von Drosdowka vorbeiführte.
    Pelagia erblickte neue Gesichter und kam nicht gleich dahinter, wer wer war, aber die Mahlzeit und das anschließende Teetrinken dauerten geraume Zeit, und danach sah sie schon etwas klarer.
    Außer den Personen, die sie bereits kannte – den Geschwistern, dem Photokünstler Arkadi Poggio und dem benachbarten Gutsbesitzer Kirill Krasnow –, saßen am Tisch der Mann im Russenhemd (nicht schön, aber von einnehmendem Äußerem), ein weiterer Mann mit Bart und bäurischem Gesicht, aber in einem Tweedanzug, und ein farbloses Frauenzimmer mit einem albernen Hütchen, das mit künstlichen Paradiesäpfeln geschmückt war.
    Der Unschöne war der Gutsverwalter Stepan Trofimowitsch Schirjajew. Der Bärtige im Tweedanzug hieß Donat Abramowitsch Sytnikow, war ein reicher Altgläubiger aus dem Transwolgaland und hatte vor kurzem in der Nähe ein Landhaus erworben. Das verwelkte Frauenzimmer hieß Miss Wrigley. Welche Rolle sie in Drosdowka spielte, war nicht ersichtlich, doch sie gehörte höchstwahrscheinlich zu der verbreiteten Kategorie der englischen, französischen und deutschen Gouvernanten, die ihre russischen Zöglinge aufgezogen und unterrichtet und sich unter dem Dach ihrer Herrschaft so eingerichtet hatten, dass sie nicht mehr wegzudenken waren.
    Zu Beginn des Abendessens erlebte Schwester Pelagia eine

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