Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
Vom Netzwerk:
unangenehme Erschütterung.
    Frau Tatistschewa erschien, auf Tanjas Schulter gestützt, und führte Sakidai und Sakussai an der Leine. Der Brief des Bischofs hatte sie sichtlich erleichtert, aber ihre Laune hatte sich nicht gebessert. Der Bischof sagte immer, manchen Kranken müsse man nicht mit Arzneien voll stopfen, sondern tüchtig erzürnen. Diese Methode schien er hier angewendet zu haben.
    Die Bulldoggen, Vater und Sohn, wurden beiseite geführt, wo den Ersteren eine Schüssel mit Markknochen, den Letzteren eine mit Gänseleber erwartete. Nun begann ein Knirschen und Schmatzen, und an den beiden Hinterteilen, dem großen und dem kleinen, wackelten rhythmisch die weißen Schwanzstummel.
    »Miss Wrigley, was haben Sie da für eine Orangerie auf dem Hut?«, fragte Frau Tatistschewa, dabei ließ sie den Blick um den Tisch wandern und hielt Ausschau, wen sie noch ärgern könnte. »Sie sind mir eine schöne jugendliche Naive. Aber warum nicht, Sie sind ja eine reiche Erbin. Höchste Zeit, sich nach einem Freier umzugucken.«
    Pelagia spitzte die Ohren und musterte die Engländerin mit größerem Interesse. Sie sah eine lebendige Mimik, dünne Lippen, verschmitzte Fältchen um die Augen.
    Der plötzliche Angriff hatte Miss Wrigley keineswegs eingeschüchtert, sie parierte ihn ohne die geringste Unterwürfigkeit und sprach fast akzentfrei:
    »Sich nach einem Freier umzugucken ist es nie zu spät. Nicht mal in Ihrem Alter, Marja Afanassjewna. Sie küssen Ihren Sakidai so oft, dass es längst an der Zeit wäre, die Beziehung zu legalisieren. Was geben Sie sonst Naina für ein Beispiel.«
    Das Gelächter rund um den Tisch zeigte Pelagia, dass die Hausfrau nur so streng tat und ihre Tyrannei eher gespielt war.
    Nachdem die Engländerin ihr Paroli geboten hatte, richtete die Generalswitwe den zornigen Blick auf die Nonne.
    »Unser Bischof, was mein Neffe ist, der ist auch gut. Ich kann hier krepieren, und er macht seine Witze. Was klapperst du mit den Augen, Mütterchen?«, sagte sie ärgerlich, wieder per du, zu Pelagia. »Darf ich vorstellen, meine Herrschaften: die neu erschienene Seherin in der Kutte. Sie wird mich retten, indem sie meinem Widersacher die Maske herunterreißt. Mein Neffe Mischenka sei bedankt für die Gefälligkeit. Hört mal her, was er mir schreibt.«
    Sie holte den Brief hervor, setzte die Brille auf und las vor:
    »Und damit Sie Ihre Ruhe wiederfinden, Tantchen, schicke ich Ihnen meine vertraute Gehilfin, Schwester Pelagia. Sie ist eine Person von scharfem Verstand und wird schnell herausfinden, wem Ihre kostbaren Hunde ein Dorn im Auge waren. Sollte es einer Ihrer Nächsten gewesen sein, der Ihnen übel will, was ich nicht glauben mag, so wird Pelagia den Frevler alsbald ermitteln und entlarven.«
    Am Tisch war es still geworden. Was für eine Miene die einzelnen Leute machten, konnte Pelagia nicht sehen, da sie selbst puterrot dasaß und sich tief über den Teller mit dem Aalquappensouffle beugte.
    In dieser Verlegenheit verweilte sie ziemlich lange, darauf bedacht, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber niemand versuchte, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Ihr einziger Freund bei diesem beabsichtigten oder zufälligen Scherbengericht war der freche Sakidai, der unter den Tisch geschlüpft war und ihr seine faltenreiche Schnauze aufs Knie legte. Seine Markknochen hatte er schon verputzt, und nun erkannte er mit untrüglicher Sicherheit, wer von den Menschen am Tisch sich am leichtesten erpressen ließ.
    Der Älteste vom Geschlecht der weißen russischen Bulldoggen blickte die Nonne unverwandt an, den runden Kopf zur Seite geneigt und die Sokratesstirn gerunzelt. Pelagia war hungrig, aber unter diesem in die Seele dringenden Blick zu essen war ihr peinlich. Verstohlen nahm sie ein Häppchen Souffle von der Gabel und senkte die Hand unters Tischtuch. Heißer Atem umwehte ihre Finger, die raue Zunge kitzelte, das Stückchen Fisch verschwand.
    Das Gespräch bei Tisch wurde interessant, es drehte sich um Talent und Genie.
    »Von mir wurde schon als Kind gesagt: ein Talent, ein Talent«, erzählte Poggio und kniff ironisch ein Auge ein. »Als ich noch dumm war, habe ich mir viel darauf eingebildet, doch dann kam ich zu Verstand und dachte: Nur ein Talent? Warum ist Raffael ein Genie und ich nur ein Talent? Worin besteht der Unterschied zwischen ihm und mir? Ich bin nach Italien gereist, habe mir Raffaels Madonna angesehen – eindeutig genial. Dann meine Bilder – alles, wie es sich

Weitere Kostenlose Bücher