Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
Vom Netzwerk:
abschneiden? Unsinn. Warum haben sie dann seit Ropscha eine Pause von fünfhundert Jahren eingelegt?«
    »Das ist es eben.« Bubenzow ließ den Blick siegesbewusst die Tafel entlanggleiten. »Die von mir durchgeführte Untersuchung hat ein hochinteressantes Faktum zu Tage gefördert. Seit einiger Zeit geht bei den Waldsyten das Gerücht, in Kürze werde auf dem Himmelsfluss in einem heiligen Nachen der Gott Schischiga gefahren kommen, der viele Jahre auf einer Wolke geschlafen habe, und man müsse ihm seine Lieblingsspeise vorsetzen, damit er nicht zürne. Und seine Lieblingsspeise, das geht aus der Chronik hervor, sind Menschenköpfe. Daher meine Vermutung (eigentlich keine Vermutung, sondern völlige Gewissheit), dass Schischiga schon bei den Syten eingetroffen ist und mächtigen Hunger hat.«
    »Was reden Sie denn da!«, schrie Schirjajew wütend. »Das sind ja absurde Vermutungen!«
    »Nein, leider nicht.« Bubenzow machte ein ernstes, man kann sagen, gar amtliches Gesicht. »Tichon Selig hat hier seine Zeit genutzt und sich überall Vertrauensleute geschaffen, auch an den entlegensten Plätzen. Also, die Zuträger melden, unter den jungen Syten sei gärende Unruhe zu beobachten. Es gibt Hinweise, dass in einer abgelegenen Dickung auf einer Lichtung ein Götze aufgestellt wurde, der den Gott Schischiga darstellt, und dass ihm abgeschnittene Köpfe dargebracht werden.«
    »Bravo!« Naina klatschte plötzlich Beifall. Alle sahen sie verständnislos an. »Schischiga und Menschenopfer, das ist einfach genial! Wladimir Lwowitsch, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Was wird Ihre Geschichte in ganz Russland für Staub aufwirbeln!«
    »Sehr schmeichelhaft.« Bubenzow neigte den Kopf und begegnete etwas verwundert ihrem Blick, aus dem nicht mehr Abscheu und Verwunderung sprach, sondern Begeisterung. »Es ist in der Tat ein Skandal von gesamtstaatlichem Ausmaß. Zügelloses Heidentum ist eine Schande für eine europäische Macht, und die Schuld dafür liegt voll und ganz bei den örtlichen Behörden, namentlich den kirchlichen. Gut, dass ich jetzt hier bin. Sie können sicher sein, meine Damen und Herren, dass ich mit dieser Geschichte aufräumen, die Schuldigen ermitteln und die Wilden aus dem Wald in den Schoß der Kirche zurückführen werde.«
    »Zweifellos«, bemerkte Poggio grienend. »Sie sind ein Glückspilz, Herr Bubenzow. Ein solches Los zu ziehen!«
    Aber Bubenzow hatte sich wohl ganz in die Rolle des Staatsmanns und Inquisitors hineingesteigert und war jetzt nicht geneigt zu Scherzen.
    »Sie sollten solche Späße lassen, mein Herr«, sagte er streng. »Die Sache ist furchtbar, ja, ungeheuerlich. Wir wissen nicht, wie viele Leichen ohne Kopf noch auf dem Grunde der Flüsse und Seen liegen. Sicher ist auch, dass es weitere Opfer geben wird. Wir haben von Vertrauten bereits erfahren, wie das Ritual des Mordes vor sich geht. Nächtlicherweile schleichen sich die Diener Schischigas an den einsamen Wanderer heran, werfen ihm von hinten einen Sack über den Kopf, ziehen den Strick um seinen Hals zusammen und schleppen ihn ins Gebüsch oder an ein anderes einsames Plätzchen. Dort schneiden sie ihm den Kopf ab, werfen den Rumpf ins Moor oder ins Wasser und tragen den Sack mit der Beute zu ihrem Götzen.«
    »O my God!« Miss Wrigley bekreuzigte sich.
    »Man muss diesen Götzentempel unbedingt ausfindig machen und Wissenschaftler von der Kaiserlichen Gesellschaft für Etnographie kommen lassen«, rief Krasnow mit Feuereifer. »Götzenanbetung nebst Kopfjagd ist ja eine ganz seltene Erscheinung in unseren Breiten!«
    »Wir suchen ihn«, sagte Bubenzow drohend. »Und wir werden ihn finden. Ich habe aus Petersburg bereits telegraphisch alle notwendigen Vollmachten erhalten.«
    »Erinnern Sie sich?«, rief Naina wieder ganz unpassend. »Bei Lermontow?
    Beherrschend all den Erdentrug,
Säte er freudlos aus das Böse.
Und nie traf er mit seiner Kunst
Etwas, das Widerpart gewesen – (Nachdichtung: Roland Erb)
    Meine Herren, warum sind Sie so langweilig? Sehen Sie doch, der Mond – welch geheimnisvolle böse Kraft! Lassen Sie uns im Park spazieren gehen. Wirklich, Wladimir Lwowitsch, kommen Sie!«
    Sie sprang auf, lief zu Bubenzow und streckte ihm die schmale Hand hin. Mit ihr war etwas vorgegangen, und wohl etwas sehr Schönes – ihr Gesicht strahlte in Glück und Ekstase, ihre Augen sprühten Funken, die fein gemeißelten Nasenlöcher waren gebläht. Die plötzliche Aufwallung des wunderlichen Fräuleins setzte

Weitere Kostenlose Bücher