Akunin, Boris - Pelagia 01
niemanden in Erstaunen, waren doch alle an ihre jähen Stimmungsumschwünge gewöhnt.
»Spazieren gehen, warum nicht«, sagte Krasnow unbekümmert und stand auf. »Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Miss.« Er reichte der Engländerin den elegant gebogenen Arm. »Aber lassen Sie mich nicht allein, sonst wird mir noch von hinten ein Sack über den Kopf gestülpt, ha-ha.«
Naina stand noch immer vor Bubenzow und streckte ihm die Hand hin, aber er blickte die schöne Frau von unten gelassen und selbstsicher an.
»Keine Zeit, Naina Georgijewna«, sagte er endlich in gleichmütigem Ton. »Ich muss zu Tantchen. Und ich will noch vor der Nacht ein Memorandum für die Polizeiwache schreiben. Es gibt eine Anordnung aus Petersburg, mir eine Wache beizugeben. Das ist eine ernste Sache. Ich habe heute die erste Drohung erhalten, schriftlich – sie liegt bei der Akte.«
Das Fräulein sagte zärtlich zu ihm:
»Ach, lieber Wladimir Lwowitsch, die beste Wache ist die Liebe. Ihr sollten Sie vertrauen, nicht der Polizei.«
Wenn Bubenzows Absage sie verärgert hatte, so ließ sie sich nichts anmerken.
»Wie Sie meinen.« Sie lächelte sanft, wandte sich den übrigen Männern zu und sagte mit anderer Stimme – fordernd und gebieterisch: »Gehen wir in den Park. Aber jeder für sich, damit es graulicher ist, wir werden uns Zurufen.«
Sie lief die Stufen hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Schirjajew, Poggio und Pjotr folgten ihr schweigend. Der Letztere drehte sich um und fragte:
»Und was ist mit Ihnen, Schwester Pelagia? Kommen Sie, der Abend ist wirklich wunderbar.«
»Nein, Pjotr Georgijewitsch, ich mache auch noch einen Besuch bei Ihrer Großmutter.«
Sie folgte dem strengen Inspektor Bubenzow. Auf der Terrasse, die eben noch voller Menschen gewesen war, blieb allein Selig zurück, der sich Himbeerkonfitüre in ein Schälchen füllte.
»Morgen früh werden Sie sich viel besser fühlen, Tantchen, und wir machen eine Spazierfahrt«, sagte Bubenzow in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete; er hielt das Handgelenk der Witwe und sah ihr direkt in die Augen. »Zuerst aber erledigen wir die Sache mit dem Anwalt. Sehr gut, dass Sie ihn herbestellt haben. Es wäre wirklich schandbar, wenn Sie Drosdowka einer Kostgängerin vermachten. Das wäre ja, als wenn Elisabeth von England die Krone ihrer Hofnärrin vererbte. So was macht man nicht, Tantchen.«
»Aber wem dann? Pjotr und Naina?«, widersprach Frau Tatistschewa kaum hörbar. »Die würden doch alles verpulvern. Sie würden das Gut verkaufen, aber nicht einem anständigen Menschen, denn die Adligen haben jetzt kein Geld, sondern irgendeinem Geldsack. Der rodet den Park und macht aus dem Haus eine Fabrik. Janet Wrigley würde nichts verändern, sondern alles so lassen, wie es ist. Sie würde Pjotr und Naina Geld geben, die sind ja sozusagen ihre Familie, aber ihnen keine Dummheiten erlauben.«
»Königin Elisabeth hat anders gehandelt – sie machte Jakob Stuart zum Erben, obwohl sie Verwandte hatte, die ihr näher standen als er. Der Grund: Sie sorgte sich um das Wohl ihres Reiches. Stuart war ein Mann von wahrhaft staatsmännischem Verstand. Die Königin konnte sicher sein, dass er ihr Reich nicht nur bewahren, sondern auch stärken, dass er ihr unendlich dankbar sein und die Erinnerung an sie in hohen Ehren halten würde.«
Pelagia staunte am meisten darüber, dass Bubenzow sich durch die Anwesenheit Außenstehender nicht im Geringsten beirren ließ. Nun, Tanja hatte sich tagsüber abgerackert und döste zurückgelehnt auf ihrem Stuhl, aber sie, Pelagia, saß daneben, am Fußende des Betts, und klapperte absichtlich laut mit den Stricknadeln, damit der schamlose Kerl zur Besinnung käme.
Aber woher!
Bubenzow beugte sich vor und sah Tantchen tief in die Augen.
»Ich weiß, wie Ihr Andenken zu verewigen wäre. Sie brauchen kein Grabmal aus Carrarer Marmor und keine Kapelle. Das sind alles tote Steine. Sie brauchen ein anderes Denkmal, ein lebendiges, das sich von Drosdowka aus in ganz Russland verbreitet und dann in der ganzen Welt. Wer wird Ihr edles und mühevolles Werk fortsetzen, die Züchtung der weißen Bulldogge? Die anderen sehen darin ja nur eine dumme Laune, eine Verrücktheit. Ihre Miss Wrigley kann Hunde nicht ausstehen.«
»Das stimmt«, krächzte Frau Tatistschewa. »Im vorigen Jahr hat sie sogar gewagt, sich einen Kater anzuschaffen, aber Saguljai und Sakidai haben ihn in Stücke gerissen.«
»Na sehen Sie. Ich aber war schon als Kind ein
Weitere Kostenlose Bücher