Akunin, Boris - Pelagia 01
das Verhalten Sytnikows erklärt. Auf dessen Stuhl saß nun Selig, der sich aber kaum am Gespräch beteiligte. Nur ganz zu Anfang, als man am Tisch Platz nahm, hatte er den Überfluss an Lebkuchen, Konfekten, Konfitüren in Augenschein genommen und streng gesagt:
»Die Völlerei schadet der Reinheit der Seele. So hat schon der Heilige Kassian gelehrt, das Fressen und Prassen zu meiden, den Leib nicht zu übersättigen und weniger der Süßmäulerei zu huldigen.«
Aber Bubenzow fuhr ihn an:
»Halt den Mund, Unterleibchen, das ist nicht deine Sache.«
Worauf Tichon Selig nicht nur demütig verstummte, sondern auch eifrig der Süßmäulerei huldigte.
Die Richtung des Gesprächs ergab sich sehr bald. Bubenzow erzählte von dem erstaunlichen Vorkommnis, das Sawolshsk entsetzt hatte, morgen das ganze Gouvernement erbeben lassen und übermorgen das Imperium erschüttern würde.
»Sie haben sicherlich gehört von den beiden kopflosen Leichen, die im Kreis Tschernojar an Land gespült wurden«, begann Bubenzow, wobei er die schönen Brauen runzelte. »Die polizeiliche Untersuchung hat die Identität der Ermordeten nicht feststellen können, denn das ist ohne Kopf fast unmöglich. Immerhin hat sich ergeben, dass der Mord höchstens drei Tage zurückliegt, also wurde er irgendwo in der Nähe verübt, innerhalb des Gouvernements Sawolshsk. Als ich davon erfuhr, habe ich mir Gedanken gemacht, zu welchem Zweck der oder die Übeltäter es für nötig hielten, den Opfern den Kopf abzuschneiden.«
Bubenzow machte eine Pause und ließ den Blick spöttisch über die Anwesenden gleiten, wie um sie aufzufordern, dieses Rätsel zu lösen.
Alle schwiegen und sahen den Erzähler unverwandt an, Naina Telianowa saß gar vorgebeugt, und ihre glänzenden schwarzen Augen saugten sich an ihm fest. Sie blickte den ganzen Abend nur ihn an, ohne es zu verbergen. Es war ein seltsamer Blick – Pelagia glaubte zeitweilig Abscheu darin zu spüren, doch mehr noch brennendes Interesse und eine nicht nur leidenschaftliche, sondern verzückte Verwunderung.
Die Nonne bemerkte, dass Schirjajew und Poggio, die weit voneinander entfernt saßen, unentwegt, als hätten sie sich abgesprochen, den Kopf drehten und mal das Fräulein und mal den Gegenstand ihrer verzückten Aufmerksamkeit betrachteten. Schirjajews Wange zierte ein doppelter dunkelroter Kratzer (zweifellos die Spur von Fingernägeln), und Poggio hatte unter dem rechten Auge einen weißen Puderfleck.
Bubenzow jedoch schien Nainas Blicken keinerlei Bedeutung beizumessen. Er hatte sie noch kein einziges Mal angesprochen, und wenn er überhaupt mal zu ihr hinsah, dann mit träger Gleichgültigkeit.
Da sich das Schweigen in die Länge zog und Pelagia auf den Fortgang neugierig war, warf sie ein:
»Vielleicht wurden die Köpfe gerade deshalb abgetrennt, damit die Toten nicht identifiziert werden können?«
»Weit gefehlt!« Bubenzows Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. »So würden die hiesigen Mörder nicht denken, außerdem stammen die Ermordeten nicht von hier, sonst würde sie ja jemand vermissen und identifizieren können. Nein, da steckt etwas anderes dahinter.«
»Aber was?«, fragte Pjotr Telianow. »Spannen Sie uns nicht auf die Folter!«
»Ropscha«, antwortete Bubenzow, faltete die Hände vor der Brust und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, als hätte er damit alles erschöpfend erläutert.
Es klirrte – Schwester Pelagia hatte ihr Löffelchen fallen lassen.
»Was-was?« Krasnow hatte sich auf das Klirren umgedreht und den Namen nicht verstanden.
»Ropscha?«, fragte Pjotr verdutzt. »Ah, Moment mal. . . Der aus der Chronik! Der Mann aus Nowgorod, dem die Heiden in unserer Gegend unter Ioann dem Dritten den Kopf abgeschlagen haben. Aber erlauben Sie, was hat dieser Ropscha mit uns hier zu tun?«
Die Nasenflügel des Synodalinspektors zitterten raubgierig.
»Nichts. Aber die Heiden haben sehr mit uns zu tun. Uns wird seit langem gemeldet, dass die hiesigen Syten zwar äußerlich die rechtgläubigen Bräuche einhalten, insgeheim aber ihre Götzen anbeten und scheußlichen Bräuchen anhängen. Übrigens hat in der Zeit Ropschas hier derselbe Stamm gelebt und dieselben Götter verehrt.«
»Unwahrscheinlich«, sagte Schirjajew achselzuckend. »Ich kenne die Syten, das ist ein stilles, friedliches Völkchen. Ja, sie haben ihre eigenen Sitten, ihren Aberglauben und ihre Feste. Vielleicht ist auch noch etwas von ihrem alten Glauben lebendig. Aber töten und Köpfe
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