Akunin, Boris - Pelagia 01
Besonderes. Keiner der anderen Gäste beachtete das Bild, zumal es weitaus interessantere Photos gab. Aber wenn sich nun jemand früher oder später dieses gefährliche Photo genauer ansah? Es musste vernichtet werden, und das konnte nur durch ein ablenkendes Manöver geschehen, damit die Ermittlung von Anfang an in eine falsche Richtung ging.«
»Was war denn so Entsetzliches auf diesem Bild?«
»Ich nehme an, darauf war die Espe zu sehen, unter der die Köpfe vergraben lagen. Das Photo wurde wahrscheinlich am Morgen nach dem Doppelmord gemacht. Der Baum, obzwar schon dem Tod geweiht, denn seine Wurzeln waren von der Hacke beschädigt, war noch nicht verdorrt und sah lebendig aus. Das Wichtigste jedoch – am Baum lehnte die Hacke, die der Mörder dort vergessen hatte. Oder sie lag im Gras – das weiß ich nicht. Einer von den Bewohnern Drosdowkas oder von den ständigen Gästen hätte dieses seltsame Detail bemerken, es zu dem unbegreiflichen Welken des Baums in Beziehung setzen, sich an den zertrampelten Rasen und den Tod Sakussais erinnern und dadurch dem Verbrecher auf die Spur kommen können.«
»Ja, ja.« Der Geistliche nickte. »Wo mag die Hacke hingekommen sein?«
»Vielleicht hat der Mörder sie am nächsten Tag weggebracht. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass es Naina war.«
»Demnach hat Bubenzow nur wegen dieses Photos Poggio ermordet und die Ausstellung vernichtet?«
»Ja, zweifellos. Denn von allen Bildern und allen Platten ist nur der › Regnerische Morgen ‹ verschwunden. Die skandalösen Bildchen mit der nackten Naina haben den Verbrecher überhaupt nicht interessiert. Aber der Skandal kam Bubenzow zustatten: der Verdacht fiel auf Schirjajew.«
»Ja, so ist es gewesen.« Mitrofani neigte den Kopf, prüfte, ob alles zusammenpasste, und war zufrieden. »Aber mit der Ermordung Nainas ging Bubenzow ein großes Risiko ein. Denn diesen Mord konnte Schirjajew nicht begangen haben – er wurde zu der Zeit bei der Polizei verhört.«
»Schirjajew schied auch als Poggios Mörder aus, nachdem Naina öffentlich erklärt hatte, dass er die Nacht mit ihr verbracht habe. Bubenzow musste das Risiko eingehen, weil Naina ihm während des Untersuchungsexperiments direkt zu verstehen gab, dass sie alles wusste und ihn nicht weiter decken würde. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen sagte, sie habe gedroht, die Schulden zu begleichen? Und das hätte sie getan, weil sie sich von der teuflischen Versuchung freigemacht hatte und dem Dämon nicht länger dienen wollte. Vielleicht war sie mit ihrer Geduld am Ende, oder ihr Stolz war erwacht. Oder sie hatte ihre Wahl getroffen – zu Gunsten von Schirjajew. Allerdings spielte sie mit dem Feuer. Bubenzow konnte sie nicht mehr am Leben lassen, nicht einen Tag. Und er tötete sie. Und ihr Dienstmädchen. Was bedeutet einem solchen verworfenen Geist ein kleines Menschenleben?«
»Auch dich hätte er fast getötet«, sagte Mitrofani mit leiser, drohender Stimme, und sein Blick loderte.
»Ja. Sogar zweimal.«
Pelagia stieß einen Seufzer aus und erzählte, wie in Drosdowka, als sie den Bischof zum Parktor begleitet hatte und auf der Allee zurückging, jemand sie erwürgen wollte.
»Ich habe es damals niemandem erzählt, denn das hätte Bubenzow in den Kram gepasst. Er hätte es wieder auf die Syten geschoben. Welch ein Geschenk für die synodalen Ermittler – Überfall auf eine Nonne! Bubenzow hatte erst am Abend zuvor erzählt, dass die Syten auf einsamen Landstraßen ihren Opfern einen Sack über den Kopf stülpen. Jetzt verstehe ich, wer mich erwürgen wollte und warum. Erinnern Sie sich, als ich Naina vor allen entlarvte, sagte ich, dass ich es dabei nicht bewenden lassen würde.«
»Ja, ich erinnere mich.« Der Bischof nickte. »Du hast gesagt, dass da ein Geheimnis walte, das du noch klären müsstest.«
»Das war dumm von mir, unvorsichtig«, sagte Pelagia, senkte bescheiden die Augen und fügte hinzu: »Also hat Bubenzow meine Fähigkeiten hoch eingeschätzt, wenn er mich ausschalten wollte.«
Mitrofani donnerte drohend:
»Gott ist barmherzig und verzeiht alle möglichen Untaten, sogar noch schlimmere als diese. Aber ich bin nicht Gott, sondern ein sündiger Mensch, und deinetwegen werde ich Bubenzow zu Staub zermahlen. Sage mir nur, kann ich nach dem Gesetz handeln oder muss ich mir andere Mittel einfallen lassen? Du hast doch beide Male nicht gesehen, wer dich überfallen hat. Also gibt es auch keine Beweise?«
»Nur indirekte.«
Pelagia fühlte sich
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