Alanna - Das Lied der Loewin
einer hielt ihr die Spitze seines Speers an die Kehle. »Mach das nicht noch mal«, warnte er sie. Einen Augenblick später hob er den Speer und ließ Alanna sich aufrichten. Jem war unter seiner sonnengebräunten Haut ganz blass geworden und ging zur Tür zurück.
»Bring diese kleine Schlange um, Hilam!«, drängte er. Micah und Keel kamen zu sich. »Bevor er einen Weg findet dich zu überlisten!«
Alanna sah den gut gekleideten Mann an. Das war also Herzog Hilam, derjenige, der für diesen langen, abscheulichen Sommer verantwortlich war. Es war schwer zu glauben,
dass von ein derart kleiner Mann so viele Schwierigkeiten verursachen konnte.
Herzog Hilam unterdrückte ein Gähnen. »Ich werde ihn umbringen, wenn ich dazu bereit bin, Bruder«, verkündete er. »Und keinen Augenblick früher.«
Alanna erstarrte. »Ihr seid Brüder? «
»Wir sind uns nicht sehr ähnlich«, sagte Hilam mit einem grausamen Lächeln. »Deshalb eignet sich Jemis ja auch so gut als Spion.«
Jetzt fiel Alanna ein, dass König Ain von Tusain zwei Brüder hatte: Herzog Hilam und Graf Jemis. Jemis – oder Jem – sah man kaum in der Öffentlichkeit, da er meist im Land herumreiste, um Premierminister Hilam Berichte zu liefern. Ein echter Spion also!
Vor Wut schäumend kniete sich Alanna nieder. »Vergebt mir, dass ich Euch nicht früher erkannte, Herzog Hilam«, fauchte sie. »Eure liebenswerte Art hätte ich ...«
Hilam versetzte ihr einen Tritt, dass sie zu Boden stürzte. »Dein Humor gefällt mir nicht. Ich rate dir, meine Geduld nicht auf die Probe zu stellen.«
Alanna krümmte sich. Vor Schmerz brach ihr der Schweiß aus. Keiner beachtete ihre beiden Kameraden. Alle hatten ihre Aufmerksamkeit auf sie und den Herzog gerichtet. Wutentbrannt sah sie zu ihm auf. »Wie mutig Ihr doch seid, einen angeketteten Gefangenen zu treten. Bestimmt singt man an den Winterabenden ruhmreiche Balladen über Euch!«
Hilam packte ihre Ketten und zerrte sie auf die Beine hoch. »Ich habe von deiner bösen Zunge gehört, Knappe.« Er lächelte ruhig – und das machte Alanna Angst. Keiner, der so wütend war wie Hilam, lächelte, es sei denn, er war wahnsinnig. »Vielleicht werde ich sie dir herausschneiden.« Er
warf Alanna gegen die hintere Wand der Hütte und kam auf sie zu.
Sie rappelte sich mühsam auf die Beine, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ. »Ihr legt ein Verhalten an den Tag, das ich eher vom Bastard eines Ziegenhirten als von einem Edlen erwartet hätte«, höhnte sie, während Micah und Keel vorsichtig auf die Tür zukrochen. »Vielleicht hat Eure Mutter Euren Vater betrogen?« Hilam versetzte ihr einen solchen Schlag, dass sie auf die Knie fiel. Micah und Keel stürmten zur Tür hinaus und rasten, so schnell sie nur konnten, davon. Als sich Hilam umdrehte, um sie zu verfolgen, packte Alanna nach ihm und umschlang seinen Rumpf mit den Armen. Dadurch wurde der Tusainer von der Magie, die Alanna hilflos machte, daran gehindert, den fliehenden Männern einen Zauber nachzuschleudern.
»Lasst sie laufen!«, befahl Hilam, riss sich von Alanna los und ohrfeigte sie. »Der hier ist es, um den wir uns kümmern müssen!«
»Überlass ihn mir!«, drängte Jemis. »Er ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Wenn der nicht gewesen wäre, hätte ich in jener Nacht Prinz Jonathan töten können.«
Aus der Ferne hörte Alanna Schreie. Sie drückte die Daumen und betete, dass ihren Freunden die Flucht gelingen möge.
»Er ist vielen schon lange ein Dorn im Auge«, sagte Hilam. Sein Gesichtsausdruck war erbarmungslos. »Bevor ich dich mit ihm spielen lasse, wird er mir alle Pläne des Prinzen und des Königs verraten. Und dann wird er mir Dinge erzählen, die mich überhaupt nicht interessieren, nur deshalb, weil er alles Mögliche ausplaudern wird, nur damit der Schmerz aufhört.«
»Da müsste schon ein Wunder geschehen«, fauchte Alanna und spuckte dem Mann ins Gesicht.
Hilam wischte sich die Spucke weg. Seine wunderschönen Augen waren nachdenklich geworden. »Du wirst eine Weile brauchen, bis du weich wirst.« Plötzlich lächelte er, und Alanna sank das Herz in die Hose. »Das wird mir eine wahre Freude sein. Denk dir nur – dir wird die zweifelhafte Ehre zukommen, dafür verantwortlich zu sein, dass ich mir das ganze Tal nehme. Wie gefällt dir das mit deinem ach so großen Ehrgefühl, Knappe Alan?«
»Vielleicht hatte Eure Mutter ja was mit ’nem Warzenschwein?« , sagte Alanna nachdenklich. Wenn sie dem, was er da sagte,
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