Alanna - Das Lied der Loewin
war
menschenleer. Abgesehen von denen, die in der Kapelle für Ordnung sorgten, kamen die Priester hier nur zum Mittwinterfest her, wenn die zukünftigen Ritter ihre Prüfung ablegten. Zwei Stunden lang saß sie da, starrte auf die eiserne Tür des Raumes und dachte: Nur noch eineinhalb Jahre. Nur noch achtzehn Monate, bis ich dem gegenübertreten muss, was da drinnen liegt. Die Zeit reicht nicht!
Offensichtlich war Trusty der Meinung, sie sei lange genug da gewesen. Er überließ sie ihren Gedanken, stahl sich davon und kehrte mit Jonathan auf den Fersen zurück. Der Prinz warf einen einzigen Blick auf Alannas blasses Gesicht, bevor er sie aus der Kapelle zog und fest die Tür hinter sich schloss.
»Du machst es nur noch schlimmer, wenn du darüber nachgrübelst«, erklärte er ihr. »Warum willst du denn überhaupt darüber nachdenken? Wenn die Zeit kommt, gehst du hinein, ob du nun bereit bist oder nicht. Verhindern kannst du es sowieso nicht. Also komm frühstücken.«
Beim Mittagessen machten ihr Jon, Myles und Georg kleine Geschenke und ihre Freunde tranken auf ihre Gesundheit. Es war kaum zu glauben, dass sie schon sechsmal Geburtstag gehabt hatte, seit sie in den Palast gekommen war. Und es war kaum zu glauben, wie viel sie inzwischen erlebt hatte.
An diesem Abend schlich sie sich früh weg. Sie war zu ruhelos, um mit den anderen zusammenzusitzen, und zu nervös, um zu schlafen, was möglicherweise daran lag, dass sie Jonathan mit Lady Delia hatte tanzen sehen. Allem Anschein nach hatte der Prinz vor, die Nacht mit der schönen, grünäugigen Frau zu verbringen, und Alanna wollte nicht dabei sein, wenn er sich mit ihr zusammen zurückzog.
Der Gedanke an Delia brachte sie dazu, zu der verschlossenen und mit einem Zauber geschützten Holztruhe am Fußende ihres Bettes zu gehen. Sie öffnete sie und holte die schönen Kleidungsstücke hervor, die sie so sehr liebte: ein spitzenbesetztes Hemd, hauchfeine, seidene Strümpfe, winzige Lederpantoffeln, ein purpurfarbenes Seidenkleid. Sie nahm sogar die schwarze Perücke hervor, die sie gewöhnlich in der Öffentlichkeit trug. Es gab nicht so viele violettäugige Rothaarige in der Gegend, als dass sie es hätte wagen können, ihr Zimmer ohne die schützende Perücke zu verlassen. Sie zog sich die Kleider an und bewunderte sich im Spiegel. Sie war nicht so schön wie Delia, aber hässlich war sie auch nicht. Trotzig warf sie sich einen Umhang über die Schultern. Es gab kein Gesetz, das von ihr verlangte, an ihrem siebzehnten Geburtstag ein Junge zu sein, und Trusty war gerade nicht da, um sie zur Vorsicht zu mahnen. Als sie den Glutstein berührte und den daneben hängenden Talisman, der sie davor schützte, schwanger zu werden, lächelte sie. Das, wodurch man schwanger wurde, würde sie niemals tun. Da war sie ganz sicher. Trotzdem konnte sie nicht anders, als daran zu denken, dass ...
Amüsiert, weil sie so albern war und über Sex nachdachte, lugte sie zur Tür hinaus. Im Flur war keiner zu sehen. Sie wollte einen Spaziergang durch die Gärten machen. Was kümmerte es sie, ob Jonathan mit Delia zusammen war oder nicht? Sie war frei und ungebunden, und das allein war wichtig! Sie kam sich ganz schön mutig vor und fühlte sich großartig, während sie allein durch die prachtvollen Palastgärten wandelte. Als sie dann eine einsame Bank entdeckte, legte sie ihren Umhang beiseite und setzte sich. Es war Vollmond; entspannt saß sie in seinem sanften silbernen Licht
und streckte ihm das Gesicht entgegen. Eine Nacht für Liebende, dachte sie und biss sich dann auf die Lippen. Sie hatte keinen Geliebten und sie wollte auch keinen.
Sie ließ ihren Umhang liegen und schlenderte durch die Rosengärten, wo sie den schweren Duft der Blüten tief einatmete. Von hier aus konnte sie die lange Terrasse sehen, wo sie Jonathan und Delia zurückgelassen hatte. Sie entdeckte, dass dort ein Mann stand und sie beobachtete. Plötzlich ging er nach drinnen, und ihre Abenteuerlust verflüchtigte sich. Sie wollte nicht, dass einer ihrer galanten Freunde herauskam und ihr den Hof machte; das Leben war auch so schon kompliziert genug.
Er wartete neben der Bank auf sie, auf der sie ihren Umhang zurückgelassen hatte.
»Hallo«, sagte er beiläufig und reichte ihn ihr. »Ich glaube, das ist deiner.«
Alanna zog sich die Perücke vom Haar. »Woher wusstest du, dass ich es bin, Jonathan?«
Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand. »Ich vermutete es. Und dann sah ich
Weitere Kostenlose Bücher