Alanna - Das Lied der Loewin
Aber ich wusste, dass du etwas im Schilde führtest. Du hast so geheimnisvoll herumgetan in letzter Zeit. Und vergiss nicht: Vor zwei Tagen hab ich dich erwischt, wie du dir das Haar hochgehalten und dich im Spiegel angeschaut hast.«
»Es gibt Leute, die sich für gute Beobachter halten, seit sie im Krieg zu Helden wurden«, bemerkte Alanna mit gerümpfter Nase.
»Vielleicht«, entgegnete Jonathan liebenswürdig. »Aber was ist das für ein Stein?«
Alanna sah den Glutstein an und nestelte an ihm herum. »Ich habe ihn von einer Dame, die ich mal traf.«
Jonathan runzelte die Stirn. »Warum sollte dir eine Dame einen Talisman schenken? Er sieht wertvoll aus, woraus er auch immer bestehen mag, und ganz bestimmt hat er Zauberkraft.«
Alanna zuckte die Achseln. »Falls er Zauberkraft hat, so ist es jedenfalls keine, die ich benutzen kann. Und sie hat ihn mir geschenkt – tja, das ist eine lange Geschichte, aber ich möchte sie im Augenblick nicht erzählen. Ich verstehe das Ganze selbst nicht.« Sie setzte sich und Frau Cooper reichte ihr die Teekanne. »Gieß ein«, befahl die Frau. »Ihr beiden könntet wenigstens den Hut abnehmen. Merkt ihr denn nicht, wenn ihr von einer Dame bedient werdet?«
Das war nicht das letzte Mal, dass Alanna ein Kleid trug. Sie setzte sich eine schwarze Perücke auf, ging (gewöhnlich in Frau Coopers Begleitung) in die Stadt, gewöhnte sich an ihre
Röcke und lernte all die Dinge, die für die meisten Mädchen ihres Alters selbstverständlich waren. Am meisten Spaß hatten sie auf dem Marktplatz, wo sie oft ein paar Dinge für Alannas Garderobe erstanden, die am Fuß ihres Bettes in einer verschlossenen Truhe aufbewahrt wurden.
Mitte November kam der Schnee. Tagelang fiel er vom Himmel, und es gab enorme Schneeverwehungen. Die Leute schauten zu und beteten, das Wetter möge sich ändern. Endlich war es soweit und es hörte auf zu schneien. Stattdessen kam eine bittere Kälte auf, die nicht mehr weichen wollte. Die Jäger sprachen von einem »Wolfswinter«, da bei einer derartigen Witterung die Wölfe Jagd auf die Menschen machten, weil sie sonst kaum noch Beute fanden. Alanna, die Kälte hasste, packte sich warm ein und bemühte sich sie so gut es ging zu ignorieren.
Anfang Dezember kamen aus den Dörfern um den Königswald herum die ersten Berichte von Wölfen. Nachdem die anderen Lehnsgüter im Norden Tortalls das Gleiche meldeten, ließ der König eine Jagd nach der anderen abhalten, um die Menschenjäger zu töten. Coram schrieb, er habe die Familien vom Lehensgut Trebond ins Schloss einquartiert, wo sie sicher waren. Platz gebe es ja genug, fügte er in seinem Brief hinzu, aber es sei ihm lästig, dass ihm so viele Kinder zwischen den Beinen herumrannten.
Außer einem, den man den Grauen Dämonen nannte, waren bis zum Februar die meisten Wölfe getötet worden oder hatten sich versteckt. Der Graue Dämon war mindestens dreimal verwundet worden – erst kürzlich hatte ihn der Pfeil eines Jägers ein Auge gekostet –, aber nichts schien ihn lange aufzuhalten und er fuhr fort, in den Dörfern um den Königswald herum auf Raubzug zu gehen. Als er schließlich in die
Hütte eines Försters eindrang und sich ein neugeborenes Mädchen holte, schickte der König jeden Mann im Palast, der einen Speer tragen konnte, auf die Jagd. Herzog Roger nahm, prachtvoll gekleidet, teil; ebenso Herzog Gareth, dessen Bein noch immer ein wenig steif war. Selbst Myles, warm in braunen Samt und Pelz gepackt, war mit dabei, auch wenn er so aussah, als sei ihm ziemlich unbehaglich zumute. Der König selbst führte die Jagd an.
Alanna war noch unbehaglicher zumute als Myles. Moonlight hatte ein Hufeisen verloren, und sie musste statt ihrer einen heiklen Braunen mit hartem Maul reiten – einen nervösen und ängstlichen Gaul, der wohl lieber in seinem schönen warmen Stall geblieben wäre. Das konnte ihm Alanna nicht verübeln. Damit sie die Kälte überlebte, zog sie mehrere Schichten wollener Kleidung und darüber fellgefüttertes Leder an. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie ganz aufgeplustert aus.
»Du brauchst nicht die Nacht im Freien zu verbringen. Wir gehen lediglich auf die Jagd«, sagte Jonathan lachend, als er sie sah.
Alanna errötete. »Ich friere so leicht.«
»Ich glaube nicht, dass du dich mit all den Schichten auf dem Leib noch rühren kannst«, erklärte er ihr, während sie im Schlosshof auf das Eintreffen seines Vaters warteten.
»So?« Mit einer raschen
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