Alanna - Das Lied der Loewin
Einzige, worauf sie sich noch freute, war die Erleichterung, die sie verspüren würde, wenn sie allen die Wahrheit sagte.
Sie stand auf und umarmte ihren Freund mit dem zotteligen Haar. »Ich hab dich lieb, Myles«, flüsterte sie und blinzelte die Tränen weg. »Ich komme oft wieder. Das verspreche ich.«
Myles tätschelte ihr sanft den Rücken und gab ihr sein Taschentuch. »Ich weiß«, meinte er tröstend. »Viel weiß ich ja vielleicht nicht, aber das weiß ich.«
Georg sah zu, wie sie in seinen Zimmern unentwegt hin und her ging. An seinen haselnussbraunen Augen konnte man nicht ablesen, was er dachte. »So wirst du nur müde«, sagte er. »Wie willst du denn die ganze Nacht wach bleiben, wenn du dich am Nachmittag schon so erschöpft?«
Alanna strich sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. »Ich glaube nicht, dass ich jemals im Leben solche Angst hatte, Georg.«
»Nicht einmal, als du gegen die Ysandir gekämpft hast? Oder als du beim Eislaufen fast ertrunken bist?« Sie schüttelte den Kopf und nestelte an dem Glutstein herum, der an einer Kette um ihren Hals hing. »Nicht, als du Dain gegenübergestanden hast oder als dich die Tusainer Ritter angriffen?«
»Nein. Verstehst du denn nicht? Gegen die konnte ich kämpfen. Mit etwas umzugehen, was ich nicht sehen kann, mit etwas, worüber ich nichts weiß ...« Alanna beförderte Trusty auf ihre Schulter, ging hinüber zum Fenster und starrte hinaus auf die Stadt. »Ich kann gar nichts tun; ich kann es nur geschehen lassen. Das ist nicht meine Art und Weise Dinge anzugehen. Das müsstest du doch besser wissen als jeder andere.«
»Da.« Der Dieb drückte ihr ein Glas Branntwein in die Hand und nahm einen Schluck aus dem Glas, das er sich selbst vollgeschenkt hatte. »Diese Flasche habe ich mir für eine besondere Gelegenheit aufgehoben. Und was könnte eine bessere Gelegenheit sein als deine Ritterprüfung heute Nacht? Trink aus, Kleine.«
Alanna gehorchte. »Das schmeckt ja phantastisch«, lobte sie. »Normalerweise trinke ich das Zeug nur, damit ich einen klaren Kopf kriege, aber der schmeckt wirklich gut. Du hast die Flasche doch nicht geklaut, oder?«, erkundigte sie sich misstrauisch wie eh und je.
Trusty sprang von ihrer Schulter, als Georg in Gelächter ausbrach. »Würde ich dir oder Jon etwas Geklautes anbieten?« , fragte er. »Nein, antworte mir nicht. Schau, da ist die Steuermarke. Klar und deutlich. Jahrgänge wie dieser hier sind besser als Gold und besser bewacht sind sie auch.«
Alanna gähnte. »Nicht, dass ich dir misstraue, Georg.« Sie gähnte noch einmal und noch ein zweites Mal. »Ich bin so müde ...« Sie sah ihren Freund aus kleinen Augen. »Du ... du hast ein Schlafmittel hineingetan!«, beschuldigte sie ihn.
Georg fing sie auf, als sie zu Boden sank. Ihre Augenlider flatterten und schlossen sich dann. »Hast du wirklich gedacht, ich würde es zulassen, dass du dich so lange quälst,
bis du krank wirst, wo doch so eine wichtige Nacht vor dir liegt?«, fragte er leise. Georg hob sie hoch, trug sie in sein Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf sein Bett.
»Du wusstest Bescheid«, meinte er, zu Trusty gewandt, als dieser neben Alanna hüpfte. »Warum hast du sie nicht gewarnt, dass ich ihren Branntwein etwas gewürzt habe?«
Der Kater zuckte mit dem Schwanz. Deck sie gut zu, riet er Georg.
Sie friert leicht.
Der Dieb lachte und gehorchte, bevor er nach unten ging und sich zu Gary, Raoul und Jonathan gesellte.
Kurz nach Sonnenuntergang brachte Georg Alanna in den Palast zurück, wo ihr jetzt also das Mittwinter-Ritual und die Prüfung bevorstanden. Sie hatte gerade noch genug Zeit sich zu sorgen, ob sie auch alles richtig machte. Sie aß nur wenig; hätte Myles sie nicht zu jedem Bissen genötigt, hätte sie gar nichts gegessen. Dann zog sie die weißen Kleider an, die sie im Prüfungsraum tragen würde. Kurz nachdem die achte Stunde ausgerufen worden war, kamen Jonathan und Gary, um sie ins Bad zu geleiten.
Während Alanna in dem ungeheizten Wasser plantschte, warteten ihre Freunde daneben in einem Raum und unterhielten sich leise.
»Ich wollte, es wäre schon vorbei«, meinte Jonathan und lauschte, was Alanna machte.
Gary warf Jonathan einen Blick zu und schenkte ihm ein Glas Wein ein. »Beruhige dich. Wir haben die Prüfung ja auch überlebt.«
»Knapp.« Jonathan stürzte sein Glas hinunter.
»Vielleicht war es ja knapp, aber überlebt haben wir. Sie
wird es auch überleben. Und denk dran:
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