Alanna - Das Lied der Loewin
benutzte Roger Lampen, die mit einem hellen Licht brannten, ohne zu flackern.
»Höre ich es plätschern?«, fragte sie Trusty leise. Sie sah sich genauer um und entdeckte schließlich ganz hinten im Raum einen Springbrunnen. Aus einem Rohr in der Wand strömte Wasser, das über mit blühendem Moos bewachsene Steine tanzte, bevor es in ein tiefes Becken floss. Voller Neugier ging sie hinüber. Warum gab es hier einen Springbrunnen?
Da fielen ihr zwei Dinge ins Auge: ein weiß-silberner Schleier, der mehrere Gegenstände zu enthalten schien, und
ein Püppchen, das direkt unter dem Wasserspeier im Becken lag. Einen Augenblick lang wollte Alanna weder das Bündel noch das Püppchen berühren, doch mit neu gewonnener Entschlossenheit zwang sie sich dazu, beides zu nehmen. Sie trug es auf einen der Tische und zog sich eine Lampe her, um ihren Fund zu begutachten.
Das Püppchen war ein vom Wasser angegriffenes wächsernes Abbild der Königin, das ihr von den echten schwarzen Haaren bis zu dem nachgearbeiteten Lieblingskleid vollkommen glich. Es hatte offensichtlich lange im Wasser gelegen, denn die Gesichtszüge waren kaum mehr kenntlich und die Farbe des Kleides war ausgewaschen. Alanna kannte diesen Zauber. Man stellte ein Abbild seines Opfers her und legte es unter strömendes Wasser. Abhängig von den benutzten Materialien, der Macht des Zauberers und davon, wie stark das Wasser floss, siechte das Opfer schnell oder langsam dahin und starb schließlich. Herzog Roger hatte das beste Wachs benutzt und Alanna nahm an, dass er das Püppchen von Zeit zu Zeit aus dem Wasser nahm, damit der Tod der Königin langsamer vonstattenging und natürlicher wirkte.
Mit zitternden Händen nahm Alanna das Püppchen beiseite und sah sich ihren zweiten Fund, das Bündel, an. Da sie es diesmal weniger behutsam aufhob, sah sie den Riss an der Seite zu spät. Ein winziges Püppchen fiel aus dem Bündel und traf auf der Tischkante auf. Alanna, deren ganze Seite plötzlich schrecklich schmerzte, stieß einen Schrei aus. Sie biss sich auf die Faust, um einen weiteren Schrei zu unterdrücken, und hob das Püppchen auf. Es war ein Abbild von ihr selbst. Nun untersuchte sie das Bündel genauer. Der Riss war lang und dünn und fast unsichtbar in der fein gesponnenen
Seide. Ihre Hände pochten, und ihr fiel ein, dass es sich im Prüfungszimmer so angefühlt hatte, als versuche sie, ein Loch in ein festes Gewebe zu reißen. Sie zog ihren Dolch, schnitt das Band ab, mit dem das Bündel verschnürt war, und breitete es auf der Tischoberfläche aus. Figuren, die auf gespenstische Art und Weise dem König, Herzog Gareth, Myles, dem Obersten Schlossverwalter und sogar Jonathan ähnelten, lagen vor ihren Augen.
»Natürlich«, erklärte sie Trusty leise. »Jetzt verstehe ich. Roger wollte nicht, dass einer von uns sieht, was er im Schilde führt, also hat er unsere Abbilder in den Schleier gesteckt. Und solange Männer wie Herzog Gareth oder Myles und der Oberste Schlossverwalter nicht sahen, dass da etwas vor sich ging, wagte auch keiner der anderen etwas zu sagen.«
Was hast du jetzt vor?, erkundigte sich Trusty mit zuckendem Schwanz. Jetzt hast du all diese blöden Regeln übertreten, die für einen Ritter gelten. Und was nun?
Alanna lächelte biiter und legte die Püppchen vorsichtig auf den Schleier. »Ich kann nicht zulassen, dass Roger so weitermacht«, entgegnete sie. »Wenn er heute Abend zurückkommt, wird er merken, dass die Püppchen weg sind; vielleicht weiß er sogar, dass ich sie genommen habe. Wenn also meine Freunde und ich diese Entdeckung überleben wollen, kümmere ich mich am besten gleich um Roger von Conté.«
Alanna kehrte in die Banketthalle zurück, in ihren Händen trug sie den mit den Figuren gefüllten Schleier. Sie blieb einen Augenblick bei Myles und bei Jonathan stehen und bat sie, mit ihr zum Tisch des Königs zu kommen. Thom tauschte gerade mit Raoul und Gary Geschichten aus, aber als er
den Blick seiner Schwester auffing, entschuldigte er sich und kam herüber. Alanna nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging zu dem langen Tisch, der vor den beiden Thronsesseln stand. Sie verbeugte sich tief vor dem König und der Königin. Erst als sie spürte, wie Myles, Thom und Jonathan hinter sie traten, begann sie zu sprechen.
Große Mutter, hilf mir, flehte sie insgeheim, als Roald auf sie aufmerksam wurde. Ich weiß nicht, ob du wolltest, dass ich es auf diese Art erledige, aber es ist die einzige Art, die ich
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