Alanna - Das Lied der Loewin
Licht umgeben.
Plötzlich wusste Alanna, dass sie handeln musste, und zwar auf der Stelle. Wenn Roger die Königin mit einem Zauber
belegt hatte, musste es irgendwo irgendein sichtbares Beweismaterial geben. Selbst der mächtigste Zauberer benötigte einen realen Gegenstand, auf den er seine Gedanken konzentrieren konnte.
Alanna wartete, bis das Festmahl in vollem Gang war, bevor sie sich entschuldigte und ihren Freunden versprach, gleich wieder zurückzukommen. Jetzt, wo Roger ihrem Bruder und den Fragen, die dieser für ihn aufwarf, seine volle Aufmerksamkeit schenkte, war der richtige Zeitpunkt gekommen. Der König würde noch mindestens eine Stunde lang sitzen bleiben. Alanna hatte vor, diese Stunde zu nutzen.
Mit dem Gefühl, als seien ihr im Prüfungszimmer ein neues Leben und ein schärferer Blick geschenkt worden, eilte sie zurück zu ihrem Zimmer. Die meisten ihrer Besitztümer waren schon verpackt, da sie am Morgen eigene Räume beziehen würde. Trusty, der nicht zum Festmahl mitdurfte, wartete auf sie.
Du gehst ein Risiko ein, miaute der Kater, als Alanna ihre Truhe nach den Dietrichen durchwühlte, die ihr Georg gegeben hatte. Wenn er dich erwischt, bist du ein mausetoter Ritter.
»Dann darf ich mich eben nicht erwischen lassen. Einverstanden?« Alanna schob den Lederbeutel mit den Dietrichen in ihren Waffenrock. »Komm mit. Du hältst Wache.«
Sie ging durch die hinteren Korridore, die zu Rogers Suite führte. Trusty trottete hinterher. In meiner Familie muss der Wahnsinn auch erblich sein, bemerkte er.
Alanna lachte, aber sie antwortete nicht.
Rogers Räumlichkeiten waren für Alannas Zwecke sehr günstig gelegen. Eine kleine Wendeltreppe ging vom Korridor ab und mündete vor Rogers Außentür. Während Trusty
am Fuß der Treppe Wache hielt, machte sich Alanna an die Arbeit. Da die Wand in einem Bogen nach oben führte, war Alanna von unten nicht zu sehen.
Vorsichtig steckte sie den ersten Dietrich ins Schloss. Er flammte auf und schmolz. Alanna ließ ihn fallen und fluchte leise über ihre Dummheit. Natürlich versah Roger seine Tür mit einem Schutzzauber. Gereizt beäugte sie das Schloss und überlegte. Sie konnte es mit einem Zauberspruch probieren, der den Schutzzauber aufhob, aber das dauerte zu lange, und sie war in Eile. Aber es gab da noch eine andere Möglichkeit ...
Sie legte ihre verbundenen Hände auf das Schloss und machte einen tiefen Atemzug. Dann entlud sie ihre Magie mit aller Kraft auf das Schloss und brachte Rogers Schutzzauber im wahrsten Sinne des Wortes zum Explodieren. Als sich ihre Augen von dem blendenden Blitz erholt hatten, machte sich Alanna erschöpft mit einem anderen Dietrich ans Werk. Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie hörte, wie sich die Zuhaltung bewegte. Die Tür ging auf, und Alanna pfiff leise nach Trusty.
Sofort kam der Kater angerannt, und Alanna schloss hinter ihm die Tür.
Es war sinnlos, in den Haupträumen zu suchen. Das, was sie suchte, würde sie hier nicht finden. Täglich kamen Leute herein, und deshalb ließ Roger hier nichts Wichtiges herumliegen. Im hinteren Teil der Suite war jedoch eine Tür, die zu Rogers Arbeitszimmer führte. Auch sie war verschlossen.
Diesmal nahm Alanna ihren Glutstein zur Hand und sah, dass die Tür von einem orangefarbenen Licht umgeben war. Das hatte sie erwartet. Wie bei der Eingangstür blieb ihr keine Zeit herauszufinden, welcher Spruch den Schutzzauber
aufheben würde – falls sie den richtigen Spruch überhaupt kannte, was sie bezweifelte. Der Schutz, mit dem diese Tür versehen war, würde weit mächtiger sein als der an der Eingangstür.
Alanna nahm ihren ganzen Mut zusammen, legte die Hände gegen die Tür und ließ ihre Zauberkraft strömen. Diesmal wurde sie ohnmächtig.
Trusty weckte sie auf, indem er ihre empfindliche Nase mit seiner rauen Zunge leckte. Schlaf später, meinte er.
Sie schenkte ihrem Kater ein schiefes Grinsen und öffnete die Tür.
Im ganzen Raum standen mit Instrumenten, Kräutern und Büchern überladene Tische herum. Alanna schaute sich die Bücher an; einige kannte sie, von anderen hatte sie gehört. Die meisten waren Zauberbücher. Manche konnte sie nicht lesen, da sie in einer vollkommen unbekannten Schrift verfasst waren. Sie entdeckte Seherkristalle in verschiedenen Größen und Farben: rosa, schwarz und farblos. Einer war blutrot, und sie hütete sich, ihn anzufassen. Als Heizung standen zwei große Schalen mit brennender Holzkohle mitten im Zimmer. Statt Fackeln
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