Alanna - Das Lied der Loewin
aufgenommen«, bemerkte er. »Das sind also zwei von den drei Jugendlichen, die du verhext hast?«
»Sie hat keinen verhext!«, knurrte Coram und leerte seinen Becher mit einem einzigen Zug. »Ibn Nazzir ist ein vertrockneter, eifersüchtiger alter Kerl.«
»Das ist Coram Smythesson«, erklärte Alanna. »Er brachte mir die grundlegenden Dinge der Ritterkunst bei. Außerdem versorgte er mich, als ich Page war.«
Einen Augenblick lang bekam Coram die volle Kraft von Mukhtabs Blick zu spüren, als dieser seine Augen weit öffnete und ihn von Kopf bis Fuß musterte. Seltsamerweise errötete der kräftige Mann. »Sie ist eine Trebond«, sagte er wie als Antwort auf eine Frage. »Die Smythessons haben den Trebonds seit Generationen gedient.«
»Mit deinen Freunden hast du schon immer Glück gehabt«, sagte Ali Mukhtab zu Alanna. »Ich nehme an, dass dir das inzwischen bewusst ist.« Alanna nickte und wurde ebenfalls rot. »Also bist du jetzt zum Ritter geschlagen und hast allen gesagt, dass du in Wirklichkeit eine Frau bist. Aber glücklich bist du nicht, oder irre ich mich?«
Alanna nestelte nervös an dem Glutstein herum. »Mir lasten ein paar Dinge auf der Seele.«
Sie machte keine Einwände, als Ali Mukhtab ihr den Glutstein aus den Fingern nahm und ihn betrachtete. Schließlich seufzte er und ließ zu, dass sie ihn wieder unter ihr Hemd steckte. »Den Bevorzugten der Götter lastet immer viel auf
der Seele«, sagte er. »Der Schamane findet, dass ich ein unnatürliches Oberhaupt bin, weil ich nicht den Befehl gebe dich zu töten. Er ist der Meinung, du habest mich verhext. Entspricht das der Wahrheit?« Er lächelte. Alanna hatte plötzlich das Gefühl, als falle ihr ein Stein vom Herzen. Dieser rätselhafte Mann war immer noch ihr Freund, aus welchen Gründen auch immer.
Coram schnaubte verächtlich. »Und wann soll sie dich verhext haben?«
Mukhtab nickte. »Diese Frage stellte ich auch, doch erhielt ich keine zufriedenstellende Antwort. Als ich mich erkundigte, wie ich als Stimme der Stämme den Tod eines Stammesmitglieds anordnen soll, ohne nach dem Gesetz einen handfesten Grund zu haben und ohne eine gerechte Befragung am Feuer durchzuführen, erklärte mir Ibn Nazzir, die Namenlosen Götter würden sich meiner Seele bemächtigen, um sich damit zu vergnügen.« Der Bazhir zuckte die Achseln. »Gesetz ist Gesetz; er kennt es ebenso gut wie jeder andere auch.« Seine Augen waren ernst, als er Alanna ansah. »Er will dich tot, Alanna von Trebond.«
»Er hatte seine Chance, als Hakim gegen mich kämpfte«, entgegnete sie. »Ich weiß nicht, weshalb er jetzt so ein Theater macht.«
»Du bist ein Furcht einflößendes Geschöpf«, erklärte ihr die Stimme feierlich. »Du nimmst nicht deinen Platz in deines Vaters Zelt ein, du lässt nicht Männer die Entscheidungen für dich treffen. Du reitest wie ein Mann, du kämpfst wie ein Mann, du denkst wie ein Mann ...«
»Wie ein menschliches Wesen denke ich!«, entgegnete sie hitzig. »Männer denken nicht anders als Frauen – sie veranstalten nur viel mehr Geschrei, wenn ihnen etwas Kluges einfällt.«
Coram lachte. Mukhtab sagte: »Ist dir noch nie aufgefallen, dass die Menschen – Männer und Frauen gleichermaßen – sagen, eine Frau handle wie ein Mann, sobald sie auf eine treffen, die sich klug verhält?«
Darauf wusste Alanna nichts zu sagen. Zornig funkelte sie Coram an, der schallend lachte.
»Viele von denen, die sich in diesem Stamm dem Schamanen unterwerfen, sind Frauen«, fuhr Mukhtab fort. »Du machst ihnen nämlich Angst. Du bist zu neu, zu fremdartig. Werden sie sich jetzt, wo du dem Stamm angehörst, anders benehmen müssen? Ihnen ist es lieber, du stirbst und wirst zu einer Legende. Legenden zwingen keinen, sich zu ändern.«
»Das ist derart idiotisch, dass es nicht lohnt, etwas darauf zu sagen«, meinte Alanna. »Warum hast du mir diese Niederschrift der Geschichte der Bazhir mitgebracht?« Sie deutete auf die Bündel mit den Schriftrollen.
»Vor sechs Jahren gab mir Prinz Jonathan zu verstehen, er sei an einer Aufzeichnung der Geschichte der Bazhir interessiert«, erklärte Mukhtab. »Seit eurer Rückkehr in den Norden haben mein Volk und ich an einer solchen Niederschrift gearbeitet. Unsere Stämme sind uralt. Diese Schriftrollen erzählen unser Los von der Zeit an, bevor wir unsere Höfe jenseits des Binnenmeers verließen. Wir bitten dich dafür zu sorgen, dass der Prinz sie so schnell wie möglich erhält. Es ist –
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