Alanna - Das Lied der Loewin
kein Schamane zuschulden kommen, Halef Seif. Hat dich diese Frau so verdorben, dass du Böses siehst, wo immer du hinblickst?«
Alanna besah sich inzwischen das Kristallschwert. Sein Heft war ein wenig länger als das von Blitz, geheimnisvolle Symbole waren darauf eingraviert, am Knauf war es mit Saphiren und Diamanten besetzt. Derartige Symbole hatte sie erst kürzlich gesehen ...
Dann fiel ihr ein, wann das gewesen war. Sie ließ das Schwert fallen und wich entsetzt zurück. Der Schamane bückte sich, hob es auf und stieß es heftig zurück in die Scheide.
»Was hast du denn, Mädchen?«, erkundigte sich Coram leise. Sie hatte ihn nicht kommen sehen.
»Roger«, flüsterte sie. »Das Heft- es sieht genauso aus wie
Herzog Rogers Zauberstab! Ich werde niemals freikommen von ihm!« Sie machte kehrt und floh in ihr Zelt. Trusty rannte hinterher.
»Wer ist dieser Roger?«, wollte Halef Seif von Coram wissen, als sich die Menge verlief.
Alannas Freund wartete mit seiner Antwort, bis sie allein standen. Er dämpfte seine Stimme. »Herzog Roger von Conté. Nach Prinz Jonathan war er der Nächste in der Thronfolge des Königreichs Tortall.«
Halef schlug das Zeichen gegen das Böse. »Der große Zauberer, der vor noch nicht ganz einem Mond umgebracht wurde?«
Coram nickte. »Jawohl. Sie hat ihn getötet, weil er versucht hatte die Königin zu ermorden.« Er seufzte. »Sie hat den Herzog schon immer gehasst, ja, sie hatte sogar Angst vor ihm. Und dem Herzog ging es mit ihr ebenso. Sie hat ihn bei ’nem ordentlichen Zweikampf vor den Augen vom König und vom Hof getötet, aber sie hatte immer ein schlechtes Gefühl wegen dieser Sache.« Corams dunkle Augen waren nachdenklich geworden. »Ich würd viel drum geben, wenn ich wüsste, wie es dazu kommt, dass ihr jetzt ein Schwert über den Weg läuft, das so aussieht wie der Zauberstab von diesem Roger.«
Halef Seif legte Coram die Hand auf die Schulter. »Sie wurde von den Göttern erwählt. Ist das nicht Grund genug?«
Alanna blieb allein im Zelt, bis die Nacht hereinbrach, versank in ihren Erinnerungen und kraulte Trusty. Sie mochte die Sache drehen und wenden, wie sie wollte – sie wusste nicht, wie sie damals anders hätte vorgehen sollen. Durch
ihre Ritterprüfung misstrauisch und hellsichtig geworden, hatte sie Herzog Rogers Suite durchsucht und genug Beweismaterial gefunden, um ihn in jedermanns Augen zu verdammen: ein wächsernes Abbild der Königin, auf das so lange Wasser herabgefallen war, bis die Königin selbst dem Tode nahe gewesen war; wächserne Abbilder auch vom König, dem Prinzen, den wichtigsten Persönlichkeiten am Hof, sogar eines von ihr selbst. Und alle waren sie in einen festen Schleier gewickelt. Sie hatte dieses Beweismaterial König Roald gebracht und es ihm vor den Augen des gesamten Hofs übergeben. Roger hatte einen Urteilsspruch durch Zweikampf gefordert, den sie gewonnen hatte.
Sie hatte Roger von Conté gehasst, doch das Bild, wie er tief unter dem Palast ins Grab getragen wurde, konnte sie nicht vergessen. Sie hatte einen so großen Teil ihres Lebens darauf verwandt, über den Zauberer nachzugrübeln, der ja auch Jonathans Vetter war, dass es ihr schwer fiel, sich daran zu gewöhnen, dass er nun nicht mehr lebte.
Du benimmst dich lächerlich , kommentierte Trusty. Wäre Roger der Sieger gewesen, hätte er dich zerstückelt und den wilden Bestien zum Fraß vorgeworfen. Er war böse. Er verdiente den Tod.
»Ich wollte, ich könnte es so einfach sehen«, meinte Alanna deprimiert. »Ich frage mich immer noch, ob ich vielleicht vorschnell handelte.«
Er wollte, dass du so denkst. Weißt du noch? entgegnete der Kater scharf.
Alanna schüttelte den Kopf. Überzeugt war sie immer noch nicht. »Gnädige Mutter, ist es schon dunkel?«
»Die Nacht bricht hier schnell ein«, kommentierte Halef vom Zelteingang her. Er kauerte sich neben sie; sein Gesicht
lag im Schatten. »Wir haben uns mit der Stimme der Stämme beraten. Er kommt.«
»Wer ist diese Stimme der Stämme?«, wollte Alanna wissen. »Er ist unser Oberhaupt«, erwiderte der Häuptling. »Bei Sonnenuntergang versammeln wir uns an unseren Feuern und halten aus der Ferne Zwiesprache mit ihm, so wie dies jeder einzelne Mann und jede Frau des Volkes der Bazhir tun. Auf diese Art und Weise kennt er unsere Gedanken, unsere Wünsche. Er weiß, was sich im Verlauf des Tages zugetragen hat, also trifft er jegliche Entscheidung in voller Kenntnis unseres Herzens und unserer
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