Alanna - Das Lied der Loewin
dem Zelt. Alanna warf sich auf die Schlafmatte und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Tränen wichen irgendwann einem langen, erschöpften Schlaf. Als sie erwachte, war es dunkel. Jonathan und Myles waren fort.
»Jonathan!« Königin Lianne winkte ihren Sohn zu sich. Jonathan gehorchte und versuchte, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, was ihm seit seiner Rückkehr aus der Wüste vor mehr als einer Woche ausgesprochen schwerfiel. Er hörte, wie die Höflinge gerade eben über seine ungewöhnlich schlechte Laune tuschelten.
Sollen sie doch reden, dachte er bitter, als er sich vor dem Thron seiner Mutter verbeugte. Was kümmert es denn mich?
Seine Mutter bedeutete einer gertenschlanken Blondine näher zu treten. »Prinz Jonathan«, sagte die Königin, als sich die Blonde zu einem tiefen Knicks niedersinken ließ. »Darf ich dich mit Prinzessin Josiane bekannt machen? Josiane ist die zweite Tochter des Königs der Kupferinseln. Sie ist gekommen, um eine Weile bei uns zu bleiben. Ihre Mutter und ich waren als Mädchen gute Freundinnen. Josiane, mein Sohn Jonathan.«
Josiane verharrte in ihrem Knicks und blickte zu ihm auf. Sie sah ihn aus großen blauen Augen ehrfurchtsvoll an. »Prinz Jonathan«, sagte sie mit sanfter, leicht belegter Stimme. »Es ist eine Ehre, den Mann zu treffen, der so tapfer im Krieg gegen Tusain gekämpft hat.«
Jonathan ergriff Josiane bei der Hand, zog sie hoch und küsste ihr leicht die Fingerspitzen. »Damals war ich noch ein Junge, Prinzessin«, erinnerte er sie. Sie sagte nichts. Ihr voller Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Hättet Ihr Lust, mit mir zu tanzen?«, fragte er dann.
»Liebend gern.« Anmutig ging sie neben ihm hinaus auf die Tanzfläche. Mit Befriedigung stellte er fest, dass sie groß war, schlank und pfirsichhäutig. Ganz passabel, dachte er mit bitterer Genugtuung. Sie wird mir helfen diesem – diesem Ding im Süden zu beweisen, dass ich nie mehr etwas mit ihm zu tun haben will!
8
Der König der Diebe
Haus Azik, das in der Hundegasse der Stadt Caynnhafen lag, war eine der vielen großen, durch hohe Mauern voneinander getrennten Residenzen. Es sah aus wie das Heim eines respektablen Kaufmanns.
»Dass ’ne Trebond mal so weit kommen würde, sich mit Dieben einzulassen, und zwar mit dem schlimmsten von allen...«, knurrte Coram, als sie an der Klingelschnur zog.
»Dieser Dieb ist mein bester Freund«, erinnerte ihn Alanna scharf. »Und er nimmt mich jedenfalls nicht als selbstverständlich hin.«
Nach ihrem Streit mit Jon hatte sie versucht, sich auf Stammesangelegenheiten zu konzentrieren, doch unentwegt waren ihre Gedanken abgeschweift. Es war Corams Entschluss gewesen, sie zu begleiten, als sie sich schließlich entschieden hatte Georg zu besuchen. Es wäre ihr recht gewesen, wenn sich Coram auch dazu entschlossen hätte, dabei den Mund zu halten. Er hatte ihre Freundschaft mit Georg nie gebilligt.
Ein braunäugiger, junger Mann lugte aus der Pförtnertür und schrie auf. Marek Flinkmesser, Georgs stellvertretender Anführer und ständiger Rivale, sperrte das große Tor auf und ließ sie ein. »Schnell!«, zischte er. »Bevor man euch erkennt!«
Im Hof stiegen Alanna und Coram von den Pferden. Marek verriegelte das Tor, dann nahm er Alannas Hand. Sein scharf geschnittenes, schönes Gesicht leuchtete vor Freude. »Für mich ist’s immer noch ein Schock, dich ohne flach gepresste Brüste zu sehen«, erklärte er und ignorierte Corams warnendes Knurren. »Freut mich wirklich sehr, dass du hier auftauchst, wo doch Seine Majestät unentwegt mürrisch ist und uns allen das Leben schwermacht.« Er führte sie ins Haus. »Wieso bist du so braun gebrannt?«, erkundigte er sich unterwegs.
»Wir waren in der Wüste. Wir sind nun Bazhir«, erklärte sie ihm.
Marek schüttelte den Kopf. »Du lässt dir aber auch immer was Neues einfallen...«
»Gäste?« Eine dralle Rothaarige trat aus dem Schatten am hinteren Ende der Eingangshalle. »Wer kommt zu dieser frühen Stunde?« Als sie Alanna sah, lachte sie. »Willkommen, Kleine. Mein Vetter wird sich freuen dich zu sehen.«
Ein harter Ellbogen bohrte sich schmerzhaft in Alannas Rippen. »Stell mich vor!«, knurrte Coram seiner Herrin und Ritterin ins Ohr.
Grinsend sagte Alanna: »Rispah, das ist Coram Smythesson. Coram war mein erster Lehrer; jetzt ist er mein Begleiter. Rispah ist Georgs Cousine und Königin über die Damen des Schurkenrings«, fügte sie verschmitzt hinzu.
Coram beugte sich über
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