Alanna - Das Lied der Loewin
immerzu? Weder Jonathan noch Georg hatten sie so in die Enge getrieben, wie er es tat. Georg hatte sie mehrere Jahre lang umworben, ohne sie jemals zu drängen. Die Entscheidung hatte er ihr überlassen. Jonathan hatte nach dem ersten Kuss ein Jahr lang gewartet, bevor er mit ihr schlief. Alanna war dankbar gewesen, dass ihr Zeit blieb, sich über ihre Gefühle für den Prinzen klar zu werden.
Aber dass Liam warten kann, glaube ich nicht, dachte sie, während sie aßen. Wenn er mich nur nicht ständig so aus dem Gleichgewicht brächte. Aber mir scheint, er ist nicht bereit, damit aufzuhören. Liam sah auf. Wieder trafen sich ihre Blicke und ließen nicht mehr los.
Coram durchbrach das Schweigen, indem er den Drachen sanft mit dem Fuß anstieß. »Sei so gut und warte, bis ich weg bin, bevor du mit ihr anbandelst«, bat er. »Ich hab immer noch ein väterliches Interesse an meiner Herrin. Und geh behutsam mit ihr um – sie ist nicht an derartige Spielchen gewöhnt.«
Liam lachte, Alanna wurde wieder einmal rot. »Ich kann mich selbst wehren«, meinte sie.
Wenn du Lust dazu hättest, warf Trusty ein. Als Coram schallend lachte, entschloss sich Alanna lieber einen Spaziergang zu machen, als dazubleiben und sich necken zu lassen.
Bei ihrer Rückkehr hob Coram hoffnungsvoll den Kopf. Am vorhergehenden Abend war sie zu müde gewesen, um
ihm Rispah im Feuer zu zeigen. Jetzt kauerte sie nieder, streckte die Handflächen zum Feuer aus und fühlte nach ihrer Gabe. Ihre Finger strahlten eine violettfarbene Glut aus, die sie in die Flammen schickte, bis diese dieselbe Farbe hatten. Nun erschien Rispahs Bild. Coram rückte näher und starrte sie wie gebannt an.
Alanna ging weg und ließ Coram allein. Wo mochte Liam stecken? Warum war er verschwunden? Weil er nicht stören wollte? Oder hatte es mit ihrer Gabe zu tun? Er hatte ziemlich seltsam geklungen, als er an diesem Morgen davon gesprochen hatte.
Sie suchte bei den Pferden und an der Quelle, aber ohne Erfolg. Schließlich fand sie ihn auf einer Lichtung in der Nähe des Bachs, wo er unter einer Weide lag.
»Du benutzt deine Gabe ziemlich oft«, empfing er sie.
»Ich habe sie schon mein ganzes Leben. Inzwischen bin ich daran gewöhnt.« Sie setzte sich neben ihn. Es verblüffte sie erneut, dass seine Stimme so seltsam klang. »Ich hätte gedacht, dass du schon viel Magie gesehen hast, wo du doch unentwegt herumziehst.«
Seine raue Stimme war leise. »In Shang hat keiner die Gabe.«
Alanna wollte gerade einen Grashalm pflücken, aber sie erstarrte mitten in der Bewegung. Sie musste sich verhört haben. »Haltet ihr uns bewusst fern? Warum?«
Er sah sie nicht an. »Diejenigen, die die Gabe besitzen, benutzen die Zauberei als Krücke. Sie sind nicht bereit, sich den Shang – Studien zu unterwerfen, weil sie wissen, dass ihnen mit ihrer Gabe immer ein Ausweg bleibt.«
»Mit anderen Worten – wir betrügen.« Den Rest der zornigen Worte, die ihr auf der Zunge lagen, verkniff sie sich.
»Du wärst hilflos, wenn man dir deine Gabe nähme«, sagte er herausfordernd.
»Selbstverständlich nicht!«
»Woher willst du das wissen?«
Das ließ sie verstummen. Sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Zauberkraft besessen, selbst zu den Zeiten, als sie versuchte, sie zu ignorieren. »Ich kann nichts dafür, dass ich die Gabe habe«, antwortete sie schließlich. »Als ich Page am Hof war, versuchte ich, dagegen anzukämpfen. Dann kam die Schwitzkrankheit, und viele Leute starben. Auch Prinz Jonathan wäre gestorben, hätte ich meine Gabe nicht benutzt.«
»Ich sage dir nur, was man uns in Shang beigebracht hat.«
Sie hätte gern sein Gesicht gesehen. »Sag mir – wo wären deine großen Shang-Meister ohne Heiler und deren Zauberkraft? Wo wärst du?«
Er antwortete nicht, also fuhr sie fort: »Mit meiner Gabe kann ich Coram eine Freude machen – wie soll er sonst seine Rispah sehen?«
»Vielleicht mag die Dame nicht, dass man ihr nachspioniert.« In seiner Stimme lag ein gefährlicher Unterton.
»Unsinn! Sie war einverstanden – willst du den Brief sehen?« Alannas Stimme war scharf. Langsam wurde es ihr zu bunt. »Ohne meine Gabe und die meiner Schüler wäre mein Bazhir-Stamm den Männern aus den Hügeln zum Opfer gefallen. Ich benutze meine Zauberkraft, um zu heilen und um damit für einige der Leben zu bezahlen, die ich nehme. Womit bezahlst du?«
»Was ich auch immer tue, meine neugierige kleine Lady, erledige ich mit meinen beiden
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