Alanna - Das Lied der Loewin
Bild griff, das sie in sich trug, sah sie das Juwel der Macht. Selbst
als bloße Vision wirkte es wie ein Katalysator: Alannas Gabe floss in es hinein und hindurch und wirbelte als ein schimmerndes, violettfarbenes Netz über das Banditenlager. Sie manövrierte es in die richtige Lage und gab acht, dass jedes Zelt und jede Bettrolle darunter eingeschlossen waren. Eine freudige Erregung stieg in ihr auf. Fühlte sich Thom auch so stark, wenn er einen seiner mächtigen Zauber vollführte? Kein Wunder, dass er sein normales Leben aufgegeben hatte, um Magier zu werden!
Das Netz verfestigte sich. Coram, Buri und Liam konnten es nicht sehen, nur spüren. Alanna dehnte ihren Zauber aus, bis sie erkennen konnte, was da unten vor sich ging. Buri und Liam plünderten gerade das Vorratszelt der Banditen und packten Bündel mit Lebensmitteln und sonstigen Dingen. Coram kam ihnen mit vier Pferden entgegen. Die anderen hatte er laufen lassen, um es den Banditen unmöglich zu machen, ihm und seinen Freunden zu folgen.
Jetzt versuchte Alanna krampfhaft, sich aus dem Zauber zu lösen und ihn trotzdem an Ort und Stelle zu belassen. Aber es gelang ihr nicht einmal, das Bild des Juwels aus ihrem Kopf zu verdrängen. Wie ein Leuchtfeuer brennend hielt es ihr inneres Auge gefangen. Schon jetzt spürte sie das flaue Gefühl im Magen, das ihr sagte, dass sie sich übernommen hatte.
Lass los!, schrie ihr Trusty ins Ohr. Lass los, sonst wird dein Leben darin verströmen! Doch das Bild des Juwels verlangte eine derartige Konzentration, dass sie ihren Kater nicht hören konnte.
Ein greller Schmerz durchbrach diese Konzentration, als sich Trustys Krallen und Zähne in ihren Arm bohrten, und nun gelang es ihr, sich aus dem Griff des Juwels zu lösen. Sie
stieß Trusty fort und erhob sich taumelnd. Das Netz selbst würde noch ungefähr eine halbe Stunde halten, Zeit genug, um zu entkommen. »Danke«, sagte sie atemlos.
Als die anderen kamen, um sie zu holen, sahen sie, dass Alanna nicht in der Lage war auf einem der gestohlenen Pferde zu reiten. Coram warf Liam einen Blick zu, doch an dessen Miene war deutlich abzulesen, dass ihm nicht danach war, Alanna in diesem Augenblick nahe bei sich zu haben. Also zerrte Coram die Ritterin hinter sich auf den Sattel. War der Drache wütend, weil ihn Alannas Zauberei daran gehindert hatte, es eigenhändig mit allen Banditen aufzunehmen?, fragte er sich, während sie auf ihr Lager zuritten. Liam würde gut daran tun, sich an Alannas Zauberkraft zu gewöhnen. Aus dem zu schließen, was Coram bisher mit ihr erlebt hatte, würde er noch eine Menge davon zu sehen kriegen.
Alanna brauchte zwei Tage Schlaf, um sich zu erholen. Als sie wieder auf den Beinen war, hatte sich Liam so weit beruhigt, dass er ihr seinen frühmorgendlichen Unterricht weiter erteilte. Am selben Tag machte sich die kleine Gruppe wieder auf den Weg. Die beiden jungen Mädchen nahmen jeweils eines von den Kindern hinter sich auf den Sattel, das dritte ritt mit Coram. Auch Thayet saß mit dem Säugling, den sie in seinem Wickeltuch an der Brust trug, auf einem Pferd. Buri ritt das zottelige Pony, das Coram den Banditen abgenommen hatte.
Auf wenig begangenen Pfaden ritten sie schnell durch das trostlose Hochland, vorbei an niedergebrannten Höfen und Hütten, die alle verlassen waren. Die Besitzer waren tot oder geflohen. Fast in jedem Gebäude fanden sie hässliche Spuren des Krieges – Tote, die keiner vergraben hatte, Skelette. Sie
sahen und hörten nichts, was sonst auf Menschen hindeutete, doch spürten sie, dass sie beobachtet wurden. Aber wer auch immer ihnen nachspionieren mochte, war zu verängstigt oder vorsichtig, um sich der Gruppe zu nähern, und hielt sich im Schutz der Bäume verborgen.
Was Alanna sah, verursachte ihr Alpträume, in denen die Toten zu Tortallern wurden und die verkohlten Höfe zu den Häusern ihrer Freunde. Liam fand rasch einen Weg diesen Alpträumen Einhalt zu gebieten: Wenn sie abends Halt machten, gab er ihr eine zweite Lektion in den waffenlosen Kampfsportarten. Diese zusätzliche Lektion – sie hatte ja auch noch ihren frühmorgendlichen Unterricht, dazu gelegentlich Wachdienst – sorgte dafür, dass sie viel zu müde war, um zu träumen.
Rachia war eine geschäftige Handelsstadt mit Straßen, in denen es unendlich viel zu sehen gab. Nicht einmal die vielen Soldaten, die dort unterwegs waren, beeinträchtigten das muntere Treiben der Menschen. Die Kinder zappelten in ihren Sätteln
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