Alanna - Das Lied der Loewin
herum und versuchten, sich nichts entgehen zu lassen. Buri wich nicht mehr von Thayets Seite. Jedem, der zu nahe kam, warf sie finstere Blicke zu. Alanna hatte Mühe zu atmen. Berat war klein und still gewesen – dort hatte sie sich wohl gefühlt. Jetzt musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie eher an Wüsten und Wälder gewöhnt war als an bevölkerte Städte. Wie würde es sein, wenn sie nach Corus zurückkehrte?
Sie hatten gerade den Marktplatz überquert, als ihr Instinkt sie warnte. Als sie nach oben sah, entdeckte sie einen Bogenschützen auf der Spitze eines Daches ganz in der Nähe. »Thayet!«, schrie sie.
Liam, der zu Fuß ging und Drifter am Zügel führte, zerrte Thayet mit dem Baby bei Alannas Schrei aus dem Sattel, gerade als ein Pfeil an ihren Köpfen vorbeischwirrte. Ein zweiter folgte, den Liam in der Luft auffing.
Mit vor Wut gerötetem Gesicht sprang Buri vom Pferd und rannte in das Gebäude, auf dem der Bogenschütze stand. Als Alanna ebenfalls abstieg, entdeckte sie das stabile Blumengitter, das an der Hauswand vom Boden bis zum Dach reichte. Sie probierte es aus und kletterte dann daran empor; dabei versuchte sie, nicht an morsche Stellen oder lockere Wandhalterungen zu denken. »Coram! Bring sie in den Konvent!«, schrie sie, während Zweige auf ihr Gesicht herunterregneten. Sie sah nicht nach unten, aber sie hörte, wie Liam und Coram Befehle brüllten.
Lautlos schwang sie sich über den Rand des Daches. Der Angreifer, mit Kopf- und Halstuch bekleidet, schoss einen Pfeil auf sie ab, dann machte er einen Satz aufs nächste Gebäude. Alanna duckte sich, riss den Dolch aus der Scheide und nahm die Verfolgung auf. Hinter sich hörte sie krachend eine Dachtür schlagen und rennende Schritte. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten und sah Buri, die schnell aufschloss. Die K’mir konnte schneller rennen – innerhalb von Sekunden war sie bei Alanna. Auch sie hatte den Dolch gezogen. »Bring ihn nicht um!«, keuchte Alanna. »Wir müssen erfahren, wer ihn bezahlt!« Buri nickte.
Sie rannten von Dach zu Dach und kamen dabei immer näher. Der Angreifer rang inzwischen nach Luft und taumelte. Das nächste Dach lag ein Stockwerk tiefer. Er sprang, landete unbeholfen, erhob sich und stolperte weiter.
Buri sprang ebenfalls. Beim Auftreten knickte ihr linkes Bein unter ihr ein, und sie stürzte. Schweiß lief ihr übers
Gesicht, während sie weiterrannte. Alanna, die sich unten abrollte, wie sie es von Liam und ihren Lehrern im Ringen gelernt hatte, erhob sich unverletzt. Als sie zögerte, schüttelte Buri den Kopf. »Wart nicht auf mich!«, zischte sie. »Schnapp ihn dir!«
Alanna rannte weiter. Schließlich musste der Mann stehen bleiben. Er war auf dem letzten Dach angelangt.
Alanna blieb stehen, denn sie befürchtete, er könne in Panik geraten. »Red mit mir!«, rief sie. »Ich will nur wissen, warum ...«
Er sprang. Als Alanna zum Rand des Daches kam, lag er lang ausgestreckt mit gebrochenen Gliedern unten in einer Gasse. Niedergeschlagen kehrte sie zu Buri zurück. Dann ging sie mit der humpelnden K’mir durch das Gebäude und auf die Gasse hinunter. Die erstaunten Blicke der Hausbewohner beachteten sie nicht. Der Sturz des Mannes war unentdeckt geblieben, wie Alanna zu ihrer Erleichterung feststellte. Sie hatte befürchtet, ein Gassenjunge oder sonst jemand könnte die Habseligkeiten des Mannes entwenden, bevor sie und Buri Gelegenheit hatten, ihn zu durchsuchen.
Buri kniete sich neben den Toten und stülpte die leeren Taschen um. »Keinerlei Anhaltspunkte«, sagte sie leise, während sie das Kopftuch des Mannes anhob. Das vom Sturz entstellte Gesicht war grobschlächtig; die Wangen waren von geplatzten Äderchen überzogen. »Ein nichtsnutziger Trinker«, bemerkte Buri. »So einen kann man sich für ein Goldstück als Mörder kaufen. Vermutlich hat er seinen Lohn schon versoffen.« Sie bedeckte den Toten wieder. »Jemand will Thayet tot sehen.«
Alanna nickte. »Sie hat Feinde.«
»Ihr Vater hat Feinde«, erwiderte Buri in heftigem Ton und erhob sich unsicher.
»Macht es denn einen Unterschied, wessen Feinde es sind? Jedenfalls sind sie hinter Thayet her.«
Das könnt ihr im Kloster diskutieren, erklärte ihnen da Trusty vom Eingang der Gasse her. Dort werdet ihr ebenfalls gebraucht. Und zwar sofort.
Als Alanna mit Buri im Besucherhof des Klosters ankam, sah sie sofort, dass es dort Probleme gab. Ihre Freunde hätten sofort in einem Gästehaus untergebracht
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