Alanna - Das Lied der Loewin
recht!«
Jonathan öffnete eine Dokumentenmappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und zog zwei Schriftrollen heraus. Beide trugen schwere Siegel und waren mit königsblauen
Bändern zusammengebunden. »Hört auf, euch zu streiten, ihr beiden.« Er reichte Georg die erste Rolle. Alanna sah, dass sie die fließenden Lettern eines Hofschreibers trug, nicht Jonathans exakte Handschrift.
Georg las nur einen Augenblick, bevor er aufstand und das Pergament auf den Tisch warf. Er war blass geworden, die Lippen kniff er fest zusammen. »Eine königliche Begnadigung! Wofür hältst du mich, Majestät?« Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Du hattest deinen Spaß mit dem gemeinen Volk und jetzt wirfst du mir als Belohnung derartigen Firlefanz vor? Ich will keine Barmherzigkeit, Jonathan!«
Alanna zwang sich sitzen zu bleiben. Sie durfte sich nicht einmischen.
Jonathan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich bin nicht barmherzig«, entgegnete er kühl. »Mein Vater war es. Jetzt bedrohen die Folgen einiger seiner barmherzigen Handlungen das Königreich. Ich wollte, er wäre gerechter gewesen und dafür weniger freundlich.«
Er lehnte sich zurück. »Du warst der beste Lehrer, den ich je hatte. Muss ich aufzählen, was du mir alles beigebracht hast? Wie weit die menschlichen Tricks reichen. Sogar jene, die mir misstrauen, dazu zu kriegen, dass sie mir folgen, wohin ich sie führe. Das Ausmaß der menschlichen Gier. Zu wissen, welche Dinge man nicht kaufen kann. Dass Härte notwendig ist. Die Fähigkeit, Treue zu erkennen und darauf zu vertrauen.« Jon lächelte grimmig. »Ich habe mich oft gefragt, ob ich die Prüfung zur Stimme der Stämme überlebt hätte, wenn du mich nicht unter deine Fittiche genommen hättest.«
Er klopfte auf die Begnadigung. »Der Lehrer verdient seinen Lohn«, zitierte er. »Aber es ist mehr als nur das. Dieses
Schriftstück soll verhindern, dass ich eines Tages deinen Exekutionsbefehl unterschreiben muss.«
Georg ging zu den Bücherregalen und starrte sie an. »So weit brauchst du nicht zu gehen. Ich habe keine Lust mehr auf den Schurkenthron. Ich werde Tortall verlassen und mich irgendwo anders niederlassen.«
Als Alanna aufspringen wollte, packte Jon sie am Arm. »Musst du mich verlassen, jetzt, wo ich dich brauche?«, fragte er den Dieb. »Hör zu: Ich selbst werde nie wieder Bewegungsfreiheit haben. Und unsere Heldin hier erkennt man schon von Weitem, wodurch die ihre ebenfalls eingeschränkt ist.« Mit einem Lächeln ließ er Alanna los. Angespannt blieb sie, wo sie war.
Jon fuhr fort: »Ich brauche jemanden, der nicht ist wie alle anderen und der mir als Sonderbeauftragter in geheimen Missionen dient. Einem solchen Mann muss ich absolut vertrauen können. Klug und unkonventionell muss er sein und er muss sich problemlos in allen Gesellschaftsschichten bewegen können.«
Mit einer Miene, an der nichts abzulesen war, sah Georg Jon an. »Was steht in dem zweiten Schriftstück?«
»Es ist deine Ernennung zum Adligen – zum Baron, um genau zu sein; und die Überschreibung der Ländereien und Einkünfte, die traditionsgemäß dem Oberherrn der Baronie ›Piratenbeute‹ zustehen. Sie liegt einen Tagesritt südlich von Caynnhafen.«
»Ich kenne diese Baronie«, sagte Georg knapp. »Warum? Warum musst du mich zu einem ehrbaren Mann machen?«
»Ein Sonderbeauftragter braucht ein Zuhause und Einkünfte«, lautete die einfache Antwort. »Es darf nicht sein, dass über sein Kommen und Gehen – vor allem am Hof – geredet
wird, und das bedeutet, dass er ein Edler sein muss.«
»Ich will reisen, Jon. Bevor ich alt bin und nichts anderes kenne als den Schurkenhof.«
Jonathan lächelte. »Ist das Leben hier so langweilig, dass ihr beide an nichts anderes denken könnt als ans Herumstreifen? Egal. Ich will, dass du reist. Ich muss auch erfahren, wie es außerhalb meiner Grenzen aussieht.« Er ließ Georg ein paar Augenblicke lang nachdenken, bevor er leise hinzufügte: »Ich schaffe es nicht allein. Sag, dass du zustimmst.«
Beide, Alanna und Georg, hörten den flehenden Ton in seiner Stimme, als er hinzufügte: »Bitte.«
Georg nahm die Begnadigung und las sie noch einmal. Er klopfte auf ein großes Siegel aus silbernem Wachs. »Wie, in Mithros’ Namen, hast du den Obersten Richter dazu gekriegt, dass er das unterschreibt?«
»Du würdest dich wundern. Er ist ein erstaunlicher Mann.« Jonathans Stimme klang ironisch und respektvoll zugleich, sodass sich Alanna überlegte,
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