Alanna - Das Lied der Loewin
du dich viel zu wichtig. Ich werde nicht immer da sein, um dich zurechtzuweisen.
»Ich bin nicht edel gesinnt!«
Doch, bist du. Du verbirgst es gut, aber nicht jeder kennt dich so gut wie ich. Und du meinst, du könntest alles in Ordnung bringen, was in der Welt nicht stimmt. Du brauchst einen, der dich aufmuntert, wenn du es nicht schaffst.
Abrupt musste Alanna viermal hintereinander niesen. Sie stand auf und blinzelte. Vor dem Altar nahm etwas Gestalt an, etwas, was genug Substanz hatte, um die Votivkerzen zu verdunkeln. Es war die Göttin. Ihre weiße Haut und die smaragdgrünen Augen schimmerten im Dunkel, und sie war riesengroß. Sie lächelte Alanna zu. Natürlich ist sie hier, dachte Alanna ehrfürchtig. Heute ist Beltane. Heute Abend wird jedes Paar um ihren Segen für die Sommerernte bitten. Nur – wieso kommt sie zu mir? Ich bin allein, ohne einen Mann an meiner Seite, und ich mache mir mehr Sorgen um die Krönung als um die Ernte.
Die Stimme der Göttin ließ Alanna trotzdem auf die Knie sinken. Sie musste ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um nicht die Hände vor die Ohren zu schlagen: Noch immer sammelten sich in dieser Stimme Jägerin, bellende Hundemeuten und Sturm. Im Saal der Kronen hallte selbst das Flüstern dieser Göttin wie Donner. »Nun begegnen wir uns wieder, meine Tochter. Du hast eine weite Reise gemacht,
seit wir uns letztes Mal sprachen. Bestimmt bist du nun zufrieden. Deine Arbeit in all diesen Jahren – hier und auf dem Dach der Welt – hat Früchte getragen. Dein Jonathan soll gekrönt werden, und er besitzt das Juwel der Macht.«
Alanna schaute gespannt auf. »Also wird er tatsächlich König? Bitte – könnt Ihr mir ein Zeichen geben, irgendeinen Hinweis, was geschehen wird? Ich spüre, dass Schwierigkeiten vor uns liegen, aber – Und mein Bruder? Was ist los mit Thom?«
Die Göttin schüttelte den Kopf. »Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Die Götter dürfen nicht alles offenbaren. Wo bliebe denn sonst das Recht des Menschen, sein Schicksal selbst zu bestimmen? Wo bliebe dein Recht eine Wahl zu treffen?«
»Ich glaube, ich habe eine gute Wahl getroffen«, sagte Alanna und erhob sich. »Wie kann ich Euch für Eure Gunst danken?«
»Dein Leben ist mein Dank. Ich habe dich geführt, so gut ich konnte, doch damit ist es nun vorbei. Du bist in deine Fähigkeiten hineingewachsen, Alanna. Die Zukunft liegt jetzt ganz in deiner Hand. Die Krönung wird ein Scheideweg der Zeiten sein. Gestalte sie nach deinem Willen – sofern du den Mut dazu hast!«
Alanna durchlief ein freudiger Schauer bei dieser Herausforderung, doch ihr gesunder Menschenverstand ließ sie flehen: »Nur einen Hinweis?«
Die Göttin schüttelte lächelnd den Kopf. Um sie herum wurde es heller; jetzt sah Alanna weitere Gestalten vor dem Altar. Der funkelnde Krieger konnte nur Mithros, der göttliche Kämpfer, sein. Auf der anderen Seite der Göttin wartete
mit Umhang und Kapuze ihr Bruder, der Dunkelgott. Alanna erkannte ihn und verbeugte sich zum Gruß, den er mit einem Nicken beantwortete.
Dahinter standen andere, von denen sie nur einige kannte: der Gott der Diebe, dessen Lächeln so boshaft war wie das von Georg; der Gott der Schmiede, die Meeresgöttin. Die Reihe der Götter war endlos, und aus irgendeinem Grund sah sie deutlich jedes einzelne Gesicht. Ehrfürchtig und ängstlich verbarg sie die Augen wie die Doi.
Langsam verblasste das großartige Bild. Als sie ihre Augen wieder entblößte, war sie mit Trusty allein. Eine Weile blieb sie, wo sie war, und dachte darüber nach, was sie gerade gesehen hatte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Sag schon irgendwas.«
So ist es immer, bemerkte Trusty . Ein Gott kann einen Sterblichen leiten, ihn hegen und pflegen, ihm Lehren erteilen. Und trotzdem kommt ein Moment, wo er seinen Schützling allein lassen und das Unvermeidliche geschehen lassen muss.
»Warum?«, fragte Alanna neugierig.
So ist das Universum gestaltet, entgegnete Trusty. Es gibt Augenblicke, wo nur ein Mensch auf die Ereignisse Einfluss nehmen kann.
Sie hob ihn hoch und setzte ihn neben ihr linkes Ohr. »Willst du damit sagen, dass sie nicht wissen, was geschehen wird?«
Leute wie du sind die Angelpunkte, um die sich die Zukunft dreht. Trusty beschnupperte ihr Ohr. vermassle es also nicht. Ich habe einen Ruf zu wahren.
Als sie den Saal der Kronen verließ, stand sie zu ihrer Überraschung plötzlich Delia von Eldorn und Prinzessin Josiane
gegenüber. Beide
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