Alanna - Das Lied der Loewin
lächelte. »Ich komme.« Seine Stimme war die des Mannes, der er eines Tages sein würde: tief und wohlklingend, ruhig und gebieterisch. Hörte er eine Frauenstimme, wenn Alanna sprach? Wusste er, dass sie es war? »Ich bin bei dir, mein Freund. Es wird Zeit, dass wir gehen.«
Ihre verschlungenen Hände leuchteten weiß glühend und ließen die umgebenden Schatten schmelzen. Ihre gemeinsame Gabe brannte die Wände dieses unwirklichen Ortes weg. Am Ende des Schachts lag das Zimmer, das sie schon vor so langer Zeit verlassen hatte. Während es immer näher kam, verflüchtigte sich nach und nach das violette Feuer aus Alannas Körper. Als sie in Jons Schlafraum angelangt waren,
steckte – zu ihrer großen Erleichterung – nur noch sie selbst in ihrer Haut.
»Ich danke dir«, sagte der Mann in Jonathan. Er ließ ihre Hand los. Alanna wurde wieder zu Alan, dem Pagen, der neben Prinz Jonathan auf dem Bett saß. Jons Augen waren klar. Er seufzte und schloss sie. »Es ist schön, wieder zurück zu sein«, flüsterte er und schlief ein.
Wankend stand Alanna auf. Myles wagte es schließlich, zu ihr zu treten. Er hatte zugesehen, wie die beiden Jungs in einem unentwegt heller werdenden purpurfarbenen Licht geleuchtet hatten. Er hatte Jonathan mit der Stimme eines Mannes und Alan mit der einer Frau reden hören. Das würde er nie vergessen.
»Alan?«
Sie drehte sich um. »Es geht ihm gut«, murmelte sie und stolperte. »Er wird schlafen ...« Die Knochen taten ihr weh, ihr Kopf hämmerte, und sie konnte kaum auf den Beinen stehen. »Myles«, keuchte sie und dann fiel sie bewusstlos zu Boden.
5
Das zweite Jahr
Da Alanna drei Tage durchschlief, entging sie den meisten Fragen bezüglich der Rolle, die sie bei Jonathans Heilung gespielt hatte. Als sie später gefragt wurde, schob sie Sir Myles das ganze Verdienst zu. Wann immer der Ritter versuchte, darüber zu reden, was in jener Nacht passiert war, wechselte Alanna das Thema. Sie wusste, dass Myles sie beobachtete, doch sie sagte nichts, denn sie wusste, dass dadurch bloß all die Diskussionen wieder losgehen würden.
Auch Prinz Jonathan beobachtete sie. Und doch sprach er nie über diese Nacht. Je weniger über die ganze Sache geredet wurde, desto zufriedener war Alanna. Manchmal fragte sie sich, ob sich Jonathan überhaupt an diesen Ort erinnerte, der zwischen Leben und Tod lag. Möglicherweise tat er es nicht, zumindest schnitt er das Thema niemals an.
Der kalte Winter machte endlich dem Frühling Platz, und Alanna packte ihre leichtere Kleidung wieder aus. Eines Morgens zog sie sich ganz aufgeregt an. An diesem Tag sollten die Pagen ihren lang versprochenen Ritt nach Caynnhafen unternehmen, und Alanna konnte kaum stillstehen. Plötzlich erstarrte sie vor ihrem langen Spiegel. Sie sah ihr Ebenbild genauer an und schüttelte sich.
Viel war nicht zu sehen, aber es war ganz eindeutig: Da wackelte es. Über den Winter waren ihre Brüste größer geworden.
»Coram!«, schrie sie. Tränen brannten ihr in den Augen, sie war aufgebracht.
Der Diener stolperte mit trüben Augen in ihr Zimmer. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«, fragte er gähnend.
Alanna trat hinter den Wandschirm und riss sich das Hemd vom Körper. »Geh schnell zu den Heilern und hol mir ein paar Bandagen – aber lang müssen sie sein. Erzähl ihnen, was du willst, aber beschaff mir welche!«
Coram, er war leicht verwirrt, kehrte schon ein paar Minuten später wieder zurück und warf ein Bündel weißes Leinen über den Wandschirm. Alanna schnappte danach und wickelte sich den Verband fest um ihre Brüste.
»Du verwandelst dich wohl in ’ne Frau, hab ich recht?«, fragte er von der anderen Seite des Schirmes her.
»Nein!«, schrie sie.
»Daran wirst du wohl kaum was ändern können, Kleine! Das ist deine Natur ...«
Alanna trat hinter dem Wandschirm hervor. Ihre Augen waren gerötet und ganz verschwollen. Sie hatte geweint, doch Coram wusste, dass er gut daran tat, nichts dazu zu sagen. »Vielleicht ist es meine Natur, aber ich brauche mich nicht damit abzufinden!«
Er sah sie erschrocken an. »Kleine, du musst dich so akzeptieren, wie du bist«, protestierte er. »Du kannst doch ’ne Frau sein und trotzdem ein Krieger!«
»Ich hasse es, eine Frau zu sein!«, schrie sie. »Alle werden mich für schwächlich und albern halten!«
»Also schwächlich kann man dich wohl kaum nennen«,
entgegnete er scharf. »Und albern bist du nur dann, wenn du dich so aufführst wie jetzt
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