Alanna - Das Lied der Loewin
nachdenklich drein.
»Wie lange wirst du bleiben, Vetter?«, fragte Jonathan, um von Alans seltsamem Schweigen abzulenken.
»Mein Onkel sagt, er wolle, dass ich ein Weilchen dableibe«, entgegnete Roger und sah auf den Prinzen hinunter. »›Richte dich hier häuslich ein‹, meinte er wortwörtlich.« Der Herzog zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, meine Wandertage sind vorüber.«
Jonathan grinste. »Ich verstehe sowieso nicht, wieso du so einen Bogen um uns gemacht hast.«
»Ich habe keinen Bogen um euch gemacht«, entgegnete
Roger. »Ich habe mich gebildet. Das ist ein ziemlicher Unterschied. So, wärst du so nett, mich zu deinen Eltern zu bringen? Ich glaube, es wird Zeit, dass ich sie begrüße.«
Alanna sah mit gerunzelter Stirn zu, wie der Prinz mit seinem Vetter fortging. Sie schüttelte sich, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das sie beschlichen hatte.
Gary sah sie an. »Bist du im Begriff, krank zu werden, Kleiner?«
Alanna zog unwillkürlich die Schultern hoch. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie krank.«
»Was ist denn dann los mit dir? Er war freundlich zu dir, und wenn du ein Hund wärst, dann hättest du sicher die Nackenhaare gesträubt.«
»Ich bin aber keiner«, sagte sie ärgerlich. »Welchen Grund hat er, zu mir freundlich zu sein? Er hat mich doch eben erst kennengelernt.«
»Aber er hat bestimmt schon von dir gehört. Du hast geholfen, Jon zu heilen – was ist denn jetzt schon weder?« In Alannas Augen lag ein seltsamer Ausdruck. Wenn Gary seinen Freund nicht so gut gekannt hätte, dann hätte er geschworen, in seinem Blick läge Angst.
»Ich mag es nicht, wenn sich Erwachsene für mich interessieren«, entgegnete Alanna. Sie hatte tatsächlich Angst. »Ich mag es nicht, wenn die Leute ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken. Vor allem dann nicht, wenn sie Zauberer sind. Los, sonst kommen wir zu spät zum Abendessen.«
Gary folgte ihr. Alans Reaktion verwirrte ihn total. Verbarg der Kleine etwas? Das war eine Sache, über die er nachdenken musste, sobald er mal nichts Besseres zu tun hatte.
Kurz nach Rogers Ankunft wurden alle Pagen und Knappen zu ihm gerufen. Er wollte jeden Einzelnen befragen, um festzustellen, ob er die Gabe besaß oder nicht. Es wurde gemunkelt, er bekäme es auch dann heraus, wenn einer sie zu verbergen suchte. Alanna wurde erst gegen Ende gerufen. Sie hielt die verschwitzten Hände zu Fäusten geballt, als sie Herzog Rogers Arbeitszimmer betrat. Der Herzog von Conté saß gemütlich in einem hohen Lehnsessel und drehte einen mit Juwelen besetzten Zauberstab zwischen den Fingern. Er trug einen schimmernden, bunten Waffenrock und purpurfarbene Kniehosen. Sofern Alanna etwas an ihm bewunderte, war es sein Geschmack, was Kleidung betraf.
Er lächelte. »Alan von Trebond.« Er deutete auf einen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. »Bitte, nimm Platz.«
Alanna setzte sich mit Bedacht hin und faltete die Hände auf dem Schoß. Jeder einzelne Nerv ihres Körpers war angespannt. Sie hatte es nicht bis hierher geschafft, nur um jetzt geschnappt zu werden.
»Ich habe gehört, dass du deine Gabe benutzt hast, um meinen Vetter vom Schwitzfieber zu heilen.«
»Sir Myles hat mich angeleitet, Herr.«
»Es muss dir doch eine gehörige Portion Kraft abverlangt haben. Du hast ein großes Risiko auf dich genommen.«
»Die Dorfheilerin bei mir zu Hause hat mich unterrichtet. Und anschließend war ich tatsächlich tagelang völlig erschöpft.« Alanna beobachtete den Herzog. Er schien ihr zu glauben, dass Myles die geistige Arbeit geleistet und dass sie nur die Kraft geliefert hatte. Myles hatte also nicht über jene Nacht gesprochen. Das gefiel ihr.
»Nun, zumindest brauche ich dir keine unnützen Fragen zu stellen. Wir wissen ja schon, dass du die Gabe hast – und
zwar im Übermaß. Und eure Dorfheilerin hat dich unterrichtet?«
»Ja, Herr. Mein Vater wusste aber nichts davon. Er wollte nicht, dass wir die Magie erlernen – er bekäme einen Tobsuchtsanfall, wenn er wüsste, dass ich sie hier beigebracht kriegen soll.«
»Dann werden wir es ihm nicht verraten. Du sagst ›wir‹. Erzähl mir von deinem Bruder. Soviel ich weiß, seid ihr Zwillinge.«
Rogers helle Augen waren unverwandt auf die ihren gerichtet. Alanna zog die Augenbrauen hoch und rieb sich die Stirn. Ganz unvermittelt bekam sie Kopfschmerzen.
»Er ist in der Stadt der Götter, Herr. Vater hat ihn hingeschickt, damit er Priester wird, aber ich glaube, er hat vor, sich der
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