Alanna - Das Lied der Loewin
zwei machen. Dadurch wurde der Marsch in die Stadt eine recht hastige Angelegenheit, doch irgendwie passte das zu dem frischen Herbsttag. Alanna beobachtete ihren Freund und überlegte. Jon, der im August fünfzehn geworden war, war immer noch im Wachstum. Schon jetzt war er einen Meter siebzig groß. Auch seine Stimme begann tiefer zu werden und gelegentlich umzuschlagen, genauso wie bei Gary und Raoul im Jahr zuvor. Bald würde sie anfangen müssen, so zu tun, als sei auch sie im Stimmbruch. Wir werden alle langsam erwachsen, dachte sie und seufzte.
Jonathan hörte den Seufzer und sah auf sie hinunter. »Ich helfe dir ja gern dabei, ein Pferd für dich auszusuchen«, meinte er. »Aber warum denn diese ganze Heimlichtuerei? Du hast mir nie gesagt, dass du Verwandte in der Stadt hast.«
Alanna zog ein Gesicht. »Irgendwas musste ich doch Herzog Gareth erzählen. Weißt du, dieser Mann, mit dem wir uns treffen, ist kein Verwandter. Er ist ein Freund von mir. Ich dank dir, dass du mitkommst, Jonathan.«
Er wuschelte ihr durchs Haar. »Wenn ich dadurch die Berichterstattung in der Ratsversammlung schwänzen kann, bin ich zu allem bereit. Heute geht es um die Frühjahrsaussaat – dabei schlafe ich regelmäßig ein.«
Alanna führte ihn zum »Tanzenden Täubchen«. Der alte Solom hockte an einem seiner Tische und schlief. Alanna scheuchte ihn mit einem freundlichen Klaps auf die Schulter hoch.
»Wach auf, du alte Saufnase. Ist Georg da?«
Solom blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Oh, unser Meister Alan. Aber wo ist Meister Gary?«
»Meister Gary wirst du vor dem Mittwinterfest nicht mehr zu Gesicht kriegen«, erklärte sie.
»Er hat wohl mal wieder was ausgefressen, wie?« Solom schüttelte anerkennend sein weißhaariges Haupt. »Ein wildes Bürschchen. Ich geh Seine Majestät holen.« Er stoplperte die Treppe hinauf.
Jonathan schaute sich um. »›Seine Majestät‹?«, flüsterte er. »Und woher kennt dieser Mann Gary?«
»Oh, Gary kommt oft mit mir hierher.« Alanna überhörte die andere Frage, indem sie einfach Solom folgte. Jonathan hatte keine andere Wahl, als mitzukommen.
Georg war eben fertig mit seinem Frühstück, als der Wirt die beiden in seine Zimmer führte. Er starrte Jonathan an und erhob sich. Schließlich verbeugte er sich ironisch lächelnd. »Solom, geh wieder schlafen!«, befahl er. Als der ältere Mann außer Hörweite war, murmelte der Dieb: »Eure Hoheit – ich fühle mich geehrt.« Er warf Alanna einen scharfen Blick zu. »Mir scheint, ich habe dich mal wieder unterschätzt, Kleiner. Das passiert mir kein drittes Mal, darauf kannst du Gift nehmen.«
Alanna errötete. »Ich habe ihn nur so zum Spaß mitgebracht«, sagte sie.
»Was ist hier eigentlich los?«, wollte Jonathan wissen und blickte Alanna durchdringend an.
»Hast du es ihm nicht gesagt?«, fragte Georg.
Alanna schüttelte den Kopf. »Prinz Jonathan – das ist mein Freund Georg.«
»Alan hat vergessen Euch zu sagen, dass meine Arbeit nicht immer im Einklang mit dem Gesetz steht«, bemerkte Georg. »Aber kommt mit, Jungs. Ihr werdet das Tier sehen wollen.«
Er führte sie eine andere Treppe hinunter zu einer Hintertür. Georg, der Alannas neugierigen Blick sah, erklärte: »Es macht sich bezahlt, mindestens zwei Ausgänge zu haben – sogar drei.« Er deutete zum Dach. Zwei mit Läden verschlossene Fenster lagen über dem Dach der einstöckigen Küche und an der Küchenwand lehnte eine Leiter, damit man Georgs Zimmer auch auf diesem Weg erreichen konnte.
»Hast du keine Angst vor Dieben?«, fragte Jonathan. Als die beiden daraufhin loslachten, runzelte der Prinz nachdenklich die Stirn.
»Gary hat also Lady Roxanne geküsst?«, erkundigte sich Georg. »Also ich hätte mir an seiner Stelle ein süßeres Mädchen ausgesucht.«
»Es ging um eine Wette«, erklärte Alanna.
»Für zehn Nobel hätt ich trotzdem ein hübscheres Ding geküsst«, meinte Georg.
»Wieso weißt du von dieser Wette?«, wollte Jonathan wissen. »Sie war geheim.«
»Ich habe Freunde im Palast«, antwortete Georg. »Vor dem Personal lässt sich kaum etwas geheim halten, Hoheit.«
Jonathan öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, doch Alanna lenkte Georg mit ein paar Fragen über ihre Freunde im »Tanzenden Täubchen« ab. Also schwieg
der Prinz während sie weitergingen und dachte über eine Sache nach, die ihm gekommen war.
Sie bogen in eine enge Gasse ein. Georg blieb stehen und entriegelte ein hohes Tor. Sie
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