Alanna - Das Lied der Loewin
meine Güter gesehen? Sie liegen gleich an der Großen Nordstraße. Zwischen hier und Trebond.«
Alanna runzelte über das Brett gebeugt die Stirn. »Außer in Trebond und in Caynnhafen war ich noch nirgendwo.«
Myles zog die Augenbrauen hoch. »Du solltest mehr von Tortall kennenlernen. Weißt du, dass ich oben in der Baronie Olau Ruinen besitze, die auf die Alten zurückgehen?«
Alanna packte die Neugierde. Sie wusste ein kleines bisschen über die Alten Bescheid. Sie waren über den Ozean
gesegelt und hatten nördlich des Binnenmeers eine Zivilisation aufgebaut. Nur noch Bruchstücke waren übrig geblieben: Pergamente, die Jahrhunderte überdauert hatten, Mosaike, die weiße Städte mit hohen Türmen zeigten – und Ruinen. Der königliche Palast war auf den Überresten einer ihrer ehemaligen Städte aufgebaut. Alanna hatte schon immer mehr über dieses Volk erfahren wollen, das lange Zeit vor ihrem eigenen da gewesen war.
»Sind sie interessant, Eure Ruinen?«, fragte sie gespannt. »Habt Ihr jemals etwas dort gefunden?«
Myles lächelte vergnügt. »Sie sind groß, und ich habe viele Dinge dort gefunden. Hättest du Lust, mit mir hinaufzureiten und sie dir anzusehen? Ganz nebenbei: Schach.«
»Oh ja, sehr gern. Meint Ihr, es stimmt, dass die Götter befürchteten, die Alten könnten sie zum Kampf herausfordern, und dass sie deshalb Feuer auf die Ostländer regnen ließen? So.« Sie schob ihren König aus der Gefahrenzone. Sie sah rechtzeitig hoch, um auf Myles’ Gesicht einen eigenartigen, nachdenklichen Ausdruck zu entdecken.
»Ich wusste nicht, dass dich die Alten – oder die Götter – so interessieren.«
Alanna zuckte die Achseln. »Ich rede nicht viel darüber. Herzog Roger mag keine Fragen über die Alten oder die Götter beantworten. Er sagt, wir seien zu jung, um zu verstehen. Und die anderen haben kein großes Interesse.«
»Ich glaube nicht, dass das sehr weise ist«, bemerkte Myles. »Unsere Götter wirken viel zu sehr auf unser Leben ein, als dass wir sie ignorieren könnten.« Er rückte eine Figur. »Schachmatt.«
Alanna wollte gerade ins Bett gehen, als Timon sie holen
kam. Schnell kleidete sie sich wieder an und folgte dem Diener.
»Was hast du denn jetzt schon wieder ausgefressen?«, rief ihr Coram nach. »Wieso will dich der Herzog zu so ’ner Stunde sprechen?«
»Woher soll denn ich das wissen?«, fragte Alanna, drehte sich um und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Vielleicht mag er meine Gesellschaft?«
Anstatt sie zu Herzog Gareths Büro in der Nähe der königlichen Ratsräume zu führen, brachte Timon sie zu dessen Räumlichkeiten und in sein privates Arbeitszimmer. Alanna war baff, als sie Herzog Gareth in einem bunten Hausmantel aus Brokat antraf. Er sah sie an und seufzte. »Vermutlich weißt du, dass Sir Myles morgen mit dir zur Baronie Olau reiten will, oder?«
Alanna schluckte. »Er sagte, ich müsse dort einmal hin, aber ob heute oder morgen oder wann auch immer, wusste ich nicht, wenn Euer Gnaden es gestatten, Herr.« Sie drückte nervös hinter ihrem Rücken die Hände ineinander.
Der Herzog lächelte dünn. »Ich bin nicht ärgerlich, falls du deswegen so ins Plappern kommst. Ich bin nur etwas verwirrt. Ich wusste nicht, dass ihr beide euch so nahesteht.«
Alanna verlagerte das Gewicht auf ihr anderes Bein. »Wir spielen manchmal Schach miteinander«, gestand sie. »Und ich bediene ihn beim Abendbrot. Diese Pflicht habt Ihr mir übertragen, Herr.«
»Das habe ich.«
»Und er weiß Dinge, die ich nicht verstehe. Mit ihm kann ich reden, Herr.« Alanna wurde rot. »Womit ich nicht sagen wollte, dass ...«
Der Herzog grinste. Das konnte nicht wahr sein. »Mach es
nicht noch deutlicher, als du es schon getan hast, mein Junge. Ich bin nicht dein Kindermädchen. Und es missfällt mir nicht, dass ihr Freunde seid, du und Myles. Es tut dir gut, jemanden Älteren zu haben, mit dem du sprechen kannst. Wenn dein eigener Vater ...« Er brach ab. Zu ihrer Überraschung sah Alanna, dass er leicht errötete. »Das war nicht angebracht. Verzeih mir, Alan.«
»Ich wüsste nicht, was ich Euch verzeihen sollte, Herr«, sagte sie ehrlich.
»Na gut. Du gehst jetzt besser schlafen. Myles will früh aufbrechen. Ich werde dafür sorgen, dass dich Coram weckt. Du wirst eine Woche lang unterwegs sein. Ich erwarte von dir, dass du deine Studien fortsetzt, sonst überlege ich es mir in Zukunft zweimal, bevor ich dir derartige Unternehmungen erlaube.«
»Danke, Euer
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