Alanna - Das Lied der Loewin
Es war ein prächtiger, von der untergehenden Sonne rotgolden gefärbter Blick. Unangenehm war nur, dass man geradewegs nach Westen blickte und einem das ersterbende Licht direkt in die Augen fiel.
Plötzlich deutete Jonathan. »Dieser kleine schwarze Fleck – genau dort, wo die Sonne steht –, ist das die Schwarze Stadt?«
Ali Mukhtab nickte. »Das ist die Schwarze Stadt – seit Jahrhunderten das Verderben meines Volkes. Seit wir denken können – und unsere Erinnerung reicht bis vor jene Tage zurück, an denen Euer Palast, Hoheit, noch ein Palast der Alten war –, wurden unsere jungen Menschen zur Schwarzen Stadt gerufen. Dort lebten unsere Gebieter, die Namenlosen. Sie stahlen unsere Seelen und gaben uns Bauernhöfe und Vieh. Wir schworen, niemals wieder Bauern zu sein. Die Legende besagt, wir hätten dort angehalten, als wir über das Binnenmeer in Richtung Norden zogen. Die Namenlosen hießen uns willkommen und baten uns, ihr Land mit ihnen zu teilen und ihre Felder zu bebauen. All dies hier war grün und fruchtbar, wie die Legende besagt.« Ali schwenkte die Hand über die weite, öde Sandfläche. »Als wir merkten, dass sie unsere Seelen raubten, lehnten wir uns auf. Wir brannten sie mitsamt ihrer Stadt nieder, und das ganze Land
wurde zu Staub. Nachdem wir fortgegangen waren, um nie mehr wiederzukehren, bauten wir Persopolis, damit wir die Schwarze Stadt stets im Auge behalten konnten.«
»Wie konntet ihr die Namenlosen niederbrennen, wo sie doch so mächtig waren?«, wollte Gary wissen.
»Sie fürchteten nichts so sehr wie Feuer«, entgegnete der Mann. »Ihre Geister verweilen noch immer in der Stadt, doch können sie den Feuerring nicht überschreiten, den wir um die Mauern gelegt haben.«
»Ihr sagtet, sie riefen eure jungen Leute«, sagte Alex. »Wie meintet Ihr das?«
Der Mann seufzte. »Manchmal, des Nachts, erwacht ein Junge oder ein Mädchen und versucht zur Schwarzen Stadt zu reiten. Hält man sie auf, so schreien und toben sie. Sie verweigern jegliche Nahrung, reden nur von der Schwarzen Stadt und von den Göttern, die wollen, dass sie sich hinbegeben. Wenn wir sie nicht gehen lassen, verhungern sie.«
»Und wenn sie gehen, kommen sie nicht mehr wieder«, sagte Jonathan ruhig.
»Ist es da nicht besser, sie gehen zu lassen?«, fragte Raoul.
»Vielleicht wollen sie ja gar nicht zur Schwarzen Stadt. Euer Leben ist – nun, es ist hart. Vielleicht reiten sie in Wirklichkeit zu anderen Städten, um dort zu leben.«
»Es wäre schön, wenn es so wäre«, meinte der Schlossverwalter. »Aber unsere Kinder werden dazu erzogen, ehrlich zu sein.« Seine Augen ruhten auf Alanna, als er das sagte, und sie rutschte verlegen hin und her. »Diejenigen, die uns verlassen, um in andere Städte zu ziehen, machen sich mit dem Segen – oder dem Fluch – ihrer Familien auf den Weg, aber immer teilen sie uns mit, wohin sie gehen. Diejenigen, die zur Schwarzen Stadt wollen, sprechen ohne Unterlass
von ihr, so, als könnten sie darüber nicht lügen, selbst wenn sie es wollten.«
»Mir kommt es grausam vor, sie zu fesseln und zurückzuhalten.« Raoul gähnte, machte es sich auf einem Kissen bequem und goss sich ein Glas Wein ein.
»Für einen Bazhir ist selbst der Tod durch Verhungern besser als das Schicksal, das sie unserer Meinung nach dort erwartet«, sagte Ali Mukhtab. »Es gibt eine andere Legende – wir Bazhir haben viele Legenden –, die besagt, eines Tages würden wir vom Ruf der Schwarzen Stadt befreit werden. Es heißt, zwei Götter, der Nachtgott und der Lichtgott, würden in die Schwarze Stadt gehen und dort mit den Unsterblichen kämpfen. Ich weiß nicht, ob sich das bewahrheiten wird.« Der Bazhir lächelte. »Einige, so wie Lord Martin, sagen, wir hätten so viele Legenden, weil wir kaum etwas anderes besitzen. Vermutlich hat er recht.«
»Euer Volk scheint alt und weise«, sagte Jonathan. Er stand am Fenster und sah zu, wie der letzte Sonnenfleck auf der Wüste versank. »Wie schade, dass keiner die Geschichten der Bazhir aufgeschrieben hat.« Ali Mukhtab hatte die Augen weit geöffnet und sah Jonathan mit seinem seltsam eindringlichen Blick unverwandt an. »Interessieren Euch solche Geschichten, Hoheit?«
Jonathan erwiderte den Blick gelassen. »Das müssen sie«, sagte er. »Auch die Bazhir werden eines Tages zu meinem Volk gehören.«
Mukhtab verbeugte sich tief. »Ich will sehen, ob eine derartige Geschichte gefunden – oder geschrieben – werden kann.«
»Ich
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