Alanna - Das Lied der Loewin
Stoffe, noch Glas – nur behauene Steine, so wie überall in der Stadt.
Alanna betrachtete diese Steinarbeiten eingehend. Eigenartige Tiere gab es da und noch eigenartigere Menschen: Männer mit Löwenköpfen, Frauen mit Vogelschwingen, große Katzen mit menschlichen Gesichtern. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Und nun, da sie es gesehen hatte, wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte es nicht.
»Ich kann weder Körper noch Skelette entdecken«, flüsterte Jonathan. »Diese jungen Bazhir haben sich vermutlich ganz einfach auf den Weg in die Städte gemacht.«
»Warum flüsterst du dann?« Auch Alannas Stimme war leise.
Der Prinz sah sich um und betrachtete prüfend Fenster und Türeingänge. »Ich weiß nicht – doch, ich weiß es. Dieser Ort hier ist böse. Was immer hier passiert sein mag oder nicht – diese Stadt ist durch und durch böse.«
»Ich bin froh, dass wir unsere Pferde draußen gelassen haben«, war alles, was sie darauf antwortete.
Als sie sich weiter und immer weiter in die Stadt hineinwagten, hielt sie ein wachsames Auge auf die Fenster und Türen gerichtet, die sie umgaben.
Sie gingen um eine scharfe Ecke. Vor ihnen, in der Stadtmitte, lag ein Platz. Er war groß, flach und mit Stein ausgelegt, der sorgfältig poliert war und dessen Oberfläche doch keinerlei Licht reflektierte. Alanna schien es, als starrte man in einen riesigen, mit Glas überdeckten Abgrund. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihn zu betreten. Doch sie tat es trotzdem.
Das Gebäude, das im Zentrum des Platzes stand, rief nach ihr. Die Steinwände bestanden aus unbehauenem schwarzem Stein. Das Dach hob sich durch einen Saum von goldüberzogenen Bildhauerarbeiten ab. An der Spitze der hohen Treppe lockten mächtige Türen. Sie kletterte mit Jonathan zusammen empor und sie fühlten sich kleiner und immer kleiner, während sie hinaufstiegen. Die Türen standen offen und warteten. Wie die Steine der Stadt waren auch die Türen mit exotischen Bildern bedeckt. Die Ränder der Schnitzereien waren mit Gold überzogen.
Als sie die Türen erreichten, begann Blitz zu vibrieren und das Heft zitterte in Alannas Hand. »Jonathan – mein Schwert ...«, stammelte sie.
»Hm?« Der Prinz musterte die Tür.
»Ich glaube nicht, dass wir hineingehen sollten. Mein Schwert – es vibriert! «
Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich will herauskriegen, was hier vor sich geht.« Er trat in den Tempel.
Alanna packte das Heft ihres Schwertes fester und folgte. »Du weißt doch, dass ich dich nicht alleine hineingehen lassen kann«, sagte sie unwirsch, als sie ihn einholte.
Jonathan grinste. »Natürlich. Warum dachtest du denn, dass ich meinen Onkel darum gebeten habe, dich mitkommen zu lassen?«
»Du hast also das Ganze von Anfang an geplant!«, beschuldigte sie ihn.
»Ich hasse Geheimnisse. Dieser Ort ist schon seit Jahren von einem Geheimnis umgeben. Ich wusste, dass du mutig genug bist mit mir zu kommen.«
»Aber was ist mit Gary, Alex und Raoul?«, protestierte sie. »Die wären ...«
»Die hätten den ganzen Weg hierher gemault und dann hätten sie mir eine über den Schädel gehauen, wenn ich versucht hätte die Stadt zu betreten. Ich wusste, dass du mitkommen und dich still verhalten würdest.«
»Was daran liegt, dass ich der Einzige bin, in dessen Familie Wahnsinn erblich ist«, brummte sie.
Jonathan lachte und das Geräusch wurde von der Luft im Innern des Tempels verschluckt. Langsam gingen sie, mit den Händen auf den Heften ihrer Schwerter, vorwärts. Es gab weder Fenster noch Fackeln, doch von irgendwoher kam ein sonderbares gelbgrünes Licht. Die Wände waren aus dem glasigen Stein gehauen, der das Licht auffing und auf dessen Oberfläche es sich wellenförmig ausbreitete. Am
Ende des Raumes lag ein mächtiger Block aus einem Material, das das Licht verschluckte, ohne es widerzuspiegeln.
»Der Altar«, flüsterte Jonathan.
Plötzlich wogte das Licht in einer blendenden Welle durch den Raum. Als die beiden wieder klar sehen konnten, standen Männer und Frauen vor dem Altar – elf an der Zahl. Selbst die kleinste der Frauen war größer als Herzog Gareth und alle waren sie so schön, dass es schmerzte, sie lange anzuschauen. Ihre Macht blitzte und wogte in einem grünen Lichtertanz um ihre Körper herum.
»Es ist so ewig lange her«, sagte eine Frau in Rot mit einem Seufzer. »Und sie sind so klein.«
Eine Frau streckte eine Hand nach ihnen aus. Ihre Fingernägel waren rot und so lang wie
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