Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Antworten von ihm brauchte.
Gebeugt vom Alter, die Rinde poliert zu einem glänzenden Schwarz durch das Eis unzähliger Winter und die sengende Hitze unzähliger Sommer, forderte die einsame Eiche Hochachtung. Ihre Zweige bildeten ein dicht verknotetes Laubdach, als ob der Alte seinen Zorn über das, was seinen Wurzelbrüdern widerfahren war, ausdrücken wollte. Doch auch dieser stämmige Überlebende war der Verderbnis nicht unbeschadet entgangen. Ni’lahn bemerkte mehrere melonengroße Auswüchse, die wie gelbe Beulen aus seinem Stamm sprossen. In gewisser Weise ähnelten sie durch Wespen verursachten Galläpfeln, aber sie hatte noch nie derart große gesehen.
Ni’lahn berührte behutsam die Rinde des alten Mannes und war dabei darauf bedacht, nur ja nicht die prallen Auswüchse zu berühren. Sie schloss die Augen, senkte den Kopf und öffnete sich.
Wach auf und erhöre mich, Alter, ich brauche deinen Rat.
Sie wartete auf eine Erwiderung, suchte nach einer geistigen Regung, die ihr zeigen würde, dass sie gehört worden war. Einige der älteren Bäume verloren sich manchmal in Träumen und zögerten, vom gemeinschaftlichen Lied ihrer Waldheimat abzulassen. Doch das traf auf diesen alten Mann nicht zu - sie hörte keine Spur von einem Waldlied, keine Musik des Hains, zu dessen Gemeinschaft der Alte gehörte.
Der gesamte Wald reagierte auf ihren Ruf nur mit Schweigen.
Ein eisiger Schauder durchfuhr sie. Es gab nur einen einzigen anderen Wald, der ebenso totenstill dagelegen hatte: ihre eigene Waldheimat, Lok’ai’hera, nachdem die Fäule sie zerstört hatte.
»Ni’lahn«, sagte Elena neben ihr, doch die Stimme des Mädchens schien von weit her zu kommen. »Du weinst ja. Was ist los?«
»Der Wald … er ist nicht krank.« Ni’lahns Stimme klang brüchig. »Er ist tot. Vergiftet wie meine Heimat.«
»Wie kann das sein?« fragte Er’ril. »Sieh doch, an den Bäumen sprießen immer noch Knospen, die Leben verheißen. Anscheinend geht es ihnen gut.«
»Nein. Der Geist eines Baumes singt von dem Augenblick an, da er aus dem Samen entsprießt, und er singt weiter bis zu seinem Tod.« Sie sah Er’ril und Elena an und legte die Hand ehrfürchtig an den kalten Stamm des alten Mannes. »Hier höre ich kein Waldlied«, flüsterte sie. »Alle Geister sind dahingegangen.«
»Dennoch treiben die Bäume aus«, hielt Er’ril weiterhin dagegen.
»Das täuscht. Etwas hat die wahren Geister vertrieben und die Macht über die Bäume an sich gerissen. Was wir vor uns sehen, ist kein Wald, sondern … etwas anderes.«
Elena trat näher zu Er’ril. »Wer mag das getan haben?« fragte sie mit kummervollen Augen.
»Ich bin nicht …« Ni’lahn erstarrte. Vielleicht war es nur eine Einbildung oder Wunschdenken, doch für die Dauer eines Atemzugs spürte sie die vertraute Berührung: ein Kribbeln hinter den Ohren, ein leises Läuten, als ob Wind durch Kristalle weht. Sie wagte nicht zu hoffen. Dann spürte sie, wie er nach ihr griff, auftauchend wie ein Ertrinkender, ertrinkend in Gift.
Der Alte lebte doch! Aber er durchlitt grausame Qualen.
»Ni’lahn?« sagte Elena zaghaft.
»Pscht! Er ist sehr schwach.« Ni’lahn wandte sich von den beiden besorgten Gesichtern ab und legte beide Hände auf den knorrigen Stamm der alten Eiche. Komm zu mir, alter Mann, betete sie. Möge mein Lied dir Kraft geben.
Sie summte leise eine Melodie, die sie als Kind gelernt hatte. Der Baumgeist kam näher zu ihr heran, zögernd, als ob er auf der Hut sein wollte. Ni’lahn öffnete sich weiter. Sieh mein Licht, fürchte dich nicht. Dann fiel sein Lied in das ihre ein, anfangs nur als schwaches Raunen, doch bald mit verzweifelter Inbrunst. Es war lange her, seit dieser Baum mit jemandem seiner Wurzel Zwiesprache gehalten hatte. Sein Lied umschlang sie wie die Arme eines lange verloren geglaubten Freundes. Aber Ni’lahn fühlte, dass in diesen einstmals so starken Armen wenig Kraft verblieben war. Ungeachtet des bezaubernden Klangs des Waldliedes wurde der Alte mit jedem Ton schwächer. Er bot den letzten Rest der ihm innewohnenden Kraft auf, um zu ihr zu gelangen.
Ni’lahn würde dafür sorgen, dass diese Mühe nicht umsonst war.
Sie sang mit der alten Eiche von Schmerz und Verlust und flehte: Sag mir, was mit jenen geschehen ist, die von deiner Wurzel sind, Alter. Wir müssen es wissen.
Der Alte sang weiter, doch seine Stimme wurde immer schwächer. Nur ein einziges Wort drang deutlich an ihr Ohr: Horde.
Was bedeutete
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