Alasea 02 - Das Buch des Sturms
meiste für mich. Ich fürchte, ich verstehe die Verhaltensweisen der Menschen nicht so richtig. Wir Si’lura führen ein Leben in der Abgeschiedenheit, tief in den Westlichen Marken, weit entfernt von den Menschen, abgesehen von gelegentlich auftauchenden Jägern oder Fallenstellern. Ich habe mich in Gegenwart anderer noch nie allzu wohl gefühlt …« Er senkte die Stimme und hörte sich so an, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »… besonders so weit weg von zu Hause.«
Elena nahm eine Bürste und fuhr damit über Nebelbrauts Flanken. »Ich weiß, wie du dich fühlst«, murmelte sie. Unvermittelt empfand sie Mitleid. Während sie Nebelbraut bearbeitete, erklang leise Musik vom Lagerfeuer, wo Ni’lahn nun auf ihrer Laute spielte. Die Töne schwebten dahin wie die sanfte Wärme des Lagerfeuers, verströmten in die Nacht und drangen in Elenas Herz. Er’ril hatte ihr einmal erzählt, dass Ni’lahns Laute den alten Geist der verlorenen Nyphai-Heimat in sich barg. Und als Elena dem wehmütigen Klang lauschte, wusste sie, dass das stimmte. Die Akkorde kündeten von verlorener Heimat und vermissten Freunden und berührten Elena zutiefst. Sie hatte bereits so viel von ihrer Heimat verloren - Mutter, Vater, Tante, Onkel. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass ihr Bruder Joach, nachdem er von dem Dunkelmagiker auf der Straße in Winterberg entführt worden war, vielleicht irgendwo in Alasea noch lebte. Insgeheim hegte sie den Traum, dass sie im Laufe dieser langen Reise ihren Bruder wieder finden würde. »Joach«, flüsterte sie Nebelbrauts Flanke zu, »du hast mir versprochen, dass du für mich da sein würdest. Ich nehme dich beim Wort.«
Mogwied hob den Kopf. »Hast du mit mir gesprochen?«
Sie lächelte, und ihre Wangen erröteten. »Nein, tut mir Leid. Ich habe mich nur an etwas erinnert …«
Er nickte wissend. »Erinnerungen an zu Hause sind immer eine Mischung aus Traurigkeit und Freude.«
»Ja … ja, stimmt.« Sie senkte das Gesicht, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen traten. Bisher war der Gestaltwandler ihr immer eher kühl vorgekommen: immer allein, selten zu ein paar Worten aufgelegt, immer die anderen mit zusammengekniffenen, argwöhnischen Augen beobachtend. Jetzt glaubte sie zum ersten Mal, den Mann ein wenig zu verstehen. Vielleicht waren sie und er gar nicht so unterschiedlich.
Die beiden arbeiteten schweigend weiter, jeder in sich gekehrt. Als Mogwied sich von Elena unbeobachtet wähnte, sah sie, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Sie stellte sich vor, dass die Gedanken des Gestaltwandlers genau wie die ihren in bittersüße Erinnerungen an eine verlorene Heimat und Familie versunken waren.
Nachdem sie das Pferd eine Zeit lang schweigend gebürstet und gestriegelt hatten, glänzte Nebelbrauts Fell im verblassenden Dämmerlicht. Beide traten einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern.
»Das sieht viel besser aus«, sagte Elena schließlich. »Danke.«
»Nein, ich muss dir dafür danken, dass du mir erlaubt hast zu helfen. Ich habe mich gefreut, mit jemandem reden zu können, der meine Empfindungen teilt.« Mogwied hob plötzlich die Hand und tastete seinen Lederwams ab. Dann fuhren seine Finger in eine Innentasche und zogen etwas hervor. »Hier ist ein Geschenk«, sagte er. »Nur ein kleines Unterpfand.«
Elena beugte sich vor, um zu sehen, was er ihr in der geöffneten Handfläche darbot. »Das ist eine Eichel.«
»Ja, von der großen Eiche dort.«
»Aber warum hast du … Ich meine, was …«
»Ich weiß, dass das kein großartiges Geschenk ist. Aber ich bin Sammler. Was für den einen Abfall ist, ist für den anderen ein Schatz. Ich habe Ni’lahns Erzählung gehört. Dieser Wald ist tot. Ich finde das traurig - deshalb habe ich die Eichel aufgehoben, um sie irgendwo einzugraben, wo sie vielleicht eine neue Pflanze hervorbringen wird, frei von dieser Verderbnis, damit der Wald Gelegenheit bekommt, eines Tages wieder zu leben.« Mogwied zog die Hand zurück. »Entschuldigung. Es war ein törichtes Geschenk.«
»Nein, nein.« Elena ergriff seine Hand und entnahm ihr die Eichel. Sie umschloss sie mit der Faust und drückte sie sich an die Brust. »Was für eine liebe und einfühlsame Geste. Danke, Mogwied. Ich werde dein Geschenk in Ehren halten und es wie einen Schatz behandeln.«
»Ich dachte, da wir beide unsere Heimat verloren haben … dass wir möglicherweise jemand anderem die seine zurückgeben können …« Seine Stimme brach
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