Alasea 02 - Das Buch des Sturms
das?
Verwirrt summte sie weiter, um eine genauere Beschreibung zu erhalten, aber es kam keine. Er entglitt ihr. Sie versuchte, ihm Weisen der Heilung und Hoffnung zuzusingen, aber es war vergebens. Der Geist der alten Eiche starb, indes sie sein Lied fest ins Herz schloss.
Sie senkte die Stirn an den Baumstamm. Möge die Süße Mutter dich sicher wiegen, schickte sie ihm ein letztes Gebet. Doch da der Alte ins Nichts hinüberglitt, erreichte sie ein letztes Flüstern.
Erschaudernd nahm sie die Hände von der Rinde. Nein! Nur das nicht! Wieder quollen ihr Tränen aus den Augen.
»Was ist?« fragte Elena.
Ni’lahn versuchte, zur allgemein verständlichen Sprache zurückzukehren und die Beherrschung über ihre Zunge wiederzuerlangen. Wie kunstlos die schlichte Sprache war, verglichen mit dem vielschichtigen Gesang der Wurzeln. Sie schüttelte den Kopf, benommen von der Botschaft des Baums. »Wir müssen …«
»Zurück!« Er’ril packte Ni’lahn an der Schulter und riss sie von dem Baum weg.
Sie hielt sich mit tänzelnden Schritten im Gleichgewicht und drehte sich blitzschnell um, weil sie wissen wollte, was den Präriemann so sehr erschreckt hatte. Sie schlug sich die Hand vors Gesicht, um ihren Ausdruck von Abscheu zu verbergen. Nun, nachdem der Tod des Baumes eingetreten war, bebten und zitterten die gelben Auswüchse an dem Kadaver der alten Eiche, und ein hässliches Summen drang Ni’lahn an die Ohren.
»Zurück! Zurück!« Er’rils Drängen war überflüssig.
Alle drei taumelten eilends zurück.
Plötzlich platzten die Auswüchse wie reife Schwalbenwurzschoten auf. Eine Flut winziger roter Spinnen ergoss sich aus den aufgebrochenen Wunden und verteilte sich über den Stamm und die Zweige.
Der Gestank verwesenden Fleisches entströmte dem Herzen des Baums, der jetzt ein Nest der schwärzesten Verderbnis war. Plötzlich schwebten tausende Spinnen an Seidenfäden im Abendwind.
»Mutter in der Höhe, was ist denn das Entsetzliches?« fluchte Er’ril.
Ni’lahn wusste die Antwort. »Das ist die Horde.«
Die Spinnen hüllten den Baum in ihre Netze ein. Es sah so aus, als ob die Untiere bereits wüchsen, ihre winzigen Körper wie Blutblasen anschwollen, ihre schwarzen Beine länger und dicker würden. Jedenfalls boten sie einen abscheulichen Anblick, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass ihr Biss äußerst giftig sein würde.
»Was … was sollen wir machen?« fragte Elena. »Wir können diesen Wald nicht durchqueren.«
»Doch, das können wir«, entgegnete Ni’lahn, deren Stimme so giftig klang, dass sie zu den Spinnen passte. Sie erinnerte sich an den letzten Gesang der alten Eiche. Was er von ihr erbeten hatte, war für eine Nyphai die pure Blasphemie, ein Ansinnen, das ihrem Geist im Kern widersprach - aber jetzt erkannte Ni’lahn dessen Notwendigkeit.
»Wie?« fragte Er’ril. »Was schlägst du vor?«
Ni’lahn schloss die Augen und rief sich das Bild in den Sinn, das im Todeslied der Eiche aufgeblüht war: Flammen, die an Holz und Laub lecken. Ihr Stimme klang hart, Rache verheißend. »Wir brennen uns einen Weg hindurch.«
Elena kaute auf der Unterlippe und bog die rechte Hand, um den rubinroten Fleck in der frühen Abenddämmerung zu betrachten. Die Sonne war bereits hinter den Gipfeln des Zahngebirges untergegangen, und nur ein Zwielicht am Rand des von der Verderbnis heimgesuchten Waldes war geblieben.
Niemand schenkte ihr Beachtung, wie sie dort so hinter dem Wagen stand. Die anderen waren zu tief in Erörterungen über das für den nächsten Tag geplante Vorgehen versunken. Bis jetzt war man sich nur über einen einzigen Punkt klar geworden - nämlich, dass sie sich nicht an diesem dunklen Abend der Herausforderung des Waldes stellen würden. Stattdessen, so lautete ihr Beschluss, wollten sie in einiger Entfernung zum Wald ihr Lager aufschlagen und während der ganzen Nacht jeweils im Wechsel zwei Wachposten aufstellen.
Indes sie noch diesen und jenen Vorschlag erwogen, stand nur Nebelbraut neben Elena hinter dem Wagen, die Pferdenase tief im Futterbeutel vergraben. Mit der linken Hand fuhr Elena geistesabwesend mit einem Kamm durch die Mähne des Pferdes und entfernte Knoten und Zweige, die der lange Tagesritt dort hinterlassen hatte. Doch sie verrichtete diese Arbeit nachlässig, da ihre Aufmerksamkeit auf die roten Kringel und schwarzen Spiralen der Magik gerichtet war, die über ihre rechte Hand tanzten.
Sie konzentrierte sich auf den roten Fleck und dachte an
Weitere Kostenlose Bücher