Alasea 02 - Das Buch des Sturms
seine Tränen wegwischen. Kein Mann sollte mit einem solchen Schuldgefühl im Herzen sterben. Als sie sein Gesicht berührt, riss sie die Augen weit auf. Endlich sah sie, was auf der Haut des Mannes neu war. Sie fuhr mit den Fingern sanft darüber.
Die Tätowierung des jagenden Meerfalken war verschwunden, und an ihrer Stelle war die kunstvolle Darstellung eines feurigen Drachen erschienen, die schwarzen Flügel kampfbereit erhoben, die roten Augen funkelnd vor Blutgier.
Sie blickte dem Drachen ins Antlitz und erkannte ihn, kannte ihn, so wie ihre Mutter Conch kannte. Ihr Herz vollführte einen Sprung in Richtung des Drachen, und sie streckte die Hand nach ihm aus. Die Tätowierung zeigte ihren Leibgefährten, und wie jede Mer’ai wusste sie seinen Namen.
Ragnar’k.
Bei der Berührung versank die Welt unter ihr.
Joach machte einen Satz zurück und prallte gegen Moris, der hinter ihm stand. Süße Mutter! Er konnte sich keinen Reim auf das machen, was seine Augen erblickten. Er hatte geglaubt, der dunkelhaarige Mann und das Mädchen würden vom Schicksal ereilt. Schorkan ritt auf Flammen und ragte über ihnen auf wie eine angriffsbereite Schlange. Doch jetzt …
Er hatte gesehen, wie das Mädchen die Wange und den Hals des Mannes berührt hatte, vielleicht zu einem zärtlichen Abschied oder aufgrund noch tieferer Gefühle. Doch bei der Berührung explodierte das Fleisch des Mannes, und Bahnen schwarzer Schuppen flogen durch die Luft. Seine Kleidung zerriss in Fetzen, die Reste eines Schuhs landeten bei Joachs Zeh. Das ganze wilde Durcheinander war ein einziges Gestöber von Flügeln und Klauen.
Schorkan zuckte zurück vor diesem Mahlstrom aus Schuppen und Knochen, er schwankte auf seiner Flammensäule. Greschym rollte weg, fast hätte ihn ein Funke vom Feuer des Prätors erwischt. »Ich habe dich gewarnt«, zischte der alte Magiker dem Oberhaupt der Bruderschaft zu.
Ein Dröhnen durchtoste die Höhle und wusch jedes weitere Wort Greschyms weg. Alle Augen wandten sich zu der Stelle, wo Kast und das Mädchen zuvor gestanden hatten. Ein zweites Dröhnen zerriss die Stille der Höhle.
Das Mädchen war immer noch dasselbe, wenn auch mit einem entrückten Gesichtsausdruck. Sie ritt auf dem Rücken eines gewaltigen Drachen. Stämmige schwarze Beine krallten sich mit silbernen Klauen in den Stein. Geschuppte Flügel, in üppiger Farbenpracht schillernd, bauschten sich wie riesige gerippte Segel bis zur Decke hinauf. Doch all dies war nichts verglichen mit dem ungeheuerlichen Kopf: Augen, in denen rotes Feuer glühte; klaffende Kiefer, die gebogene Reißzähne, länger als der Unterarm eines Mannes, entblößten. Er reckte den Hals erneut und brüllte in Richtung der beiden Dunkelmagiker.
Das war kein Rauchdrache, kein Magik-Geheul. Das war Fleisch und Blut.
Durch die Kraft des Dröhnens wurden die schwarzen Flammen böser Magik ausgeblasen wie eine Kerze im Sturm. Während Schorkan mit eingezogenem Kopf immer weiter zurückwich, verflogen die Flammen vom Gewand des Prätors, um harmlos an der gegenüberliegenden Wand zu vergehen. Die Höhle bebte vom Dröhnen des Drachen und dem Spiel der ungezügelten Kräfte.
Greschym rappelte sich auf die Knie auf und griff nach Schorkans erloschenem Ärmel. »Er ist zu stark. Du kannst Ragnar’k ohne Herzstein nicht besiegen. Du musst dich in deinen Turm zurückziehen.«
Schorkan ballte die Hände zu Fäusten; er zitterte am ganzen Körper. Seine schwarzen Augen bohrten sich mit mörderischem Hass in das große Ungeheuer.
Greschym zog fester am Ärmel des Prätors. »Du hast mir einst beigebracht, einen Kampf richtig einzuschätzen. Von dir habe ich gelernt, wann es sich empfiehlt zu kämpfen und wann nicht. Beherzige deine eigenen Worte, Schorkan!«
Schorkan öffnete die Fäuste und zog sich Seite an Seite mit Greschym immer weiter zurück. Der jüngere der beiden Magiker wandte die Augen nicht von dem Drachen ab, doch das gewaltige Ungeheuer wich nicht von der Stelle, die Klauen tief in das Felsgestein gegraben. In diesem Augenblick bewachte es einfach nur das Mädchen. Solange die Dunkelmagiker ihn nicht bedrohten, beäugte der Drache sie nur wachsam, mit angespannten Muskeln und kampfbereit, den Kopf bedrohlich gesenkt. Schorkan schien sich endlich der Gefahr bewusst zu werden und zog Greschym auf die Beine. »Du musst viel erklären«, war alles, was er zu seinem Zaubererkollegen sagte, doch seine Stimme war gefrorenes Gift. Er deutete mit einem Handschwenk zu
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