Alasea 02 - Das Buch des Sturms
ritzte eine Spur hinein. Blut quoll heraus, schwärzer als ihre dunkelrote Haut.
Sie drehte sich um. Der nackte Junge war neben sie gekommen und hielt die winzige Hand zu ihr ausgestreckt. Elena wollte zunächst instinktiv nach der dargebotenen Hand greifen, doch dann zögerte sie. Sie sah dem Kind ins Gesicht und erkannte, dass dies der Junge war, der sich ihr auf der Straße in Schattenbach entgegengestellt hatte: dasselbe schlammfarbene Haar, die kleine Stupsnase. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie dem kleinen Balg die Hand gegeben hatte.
»Diesmal tue ich dir nichts«, sagte er, als er ihr Zögern bemerkte. »Das verspreche ich.«
Plötzlich war sich Elena unsicher. Wem konnte sie vertrauen? Sollte sie auf Er’ril und Mikela hören? Oder sollte sie dieser Hexe glauben, die ihr eine neue Seite ihrer Magik eröffnet hatte? Sie starrte einen Herzschlag lang in die blauen Augen des Jungen, dann ergriff sie seine Hand mit ihrer blutigen Hand.
Sie würde sich selbst vertrauen.
Er’ril sah zu, indes Elena im knietiefen Wasser bibberte. Sie hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und wartete, während Cassa Dar ihre Vorbereitungen zu Ende brachte. Er’ril betrachtete das Mädchen eindringlich und spürte, dass es nicht nur das kalte Wasser war, das ihr Zähneklappern auslöste, doch sein Widerspruch gegen dieses Unterfangen hatte Elenas Entschlossenheit nur noch verstärkt, und jetzt wären weitere Worte auf taube Ohren gestoßen.
»Anfangs wird es kalt sein«, erklärte die Sumpfhexe, die neben dem Mädchen im Wasser stand. »Doch wenn du erst einmal untergetaucht bist und die Blasen dich umspielen, wird dir warm werden.«
Elena nickte.
»Solange du auf der Treppe gehst, halte dich nahe bei dem Jungen und lass seine Hand nicht los.« Cassa Dar legte ihre Hand um die verschränkten Finger des Jungen und des Mädchens. »Lass auf keinen Fall los!«
Die Zwergenfrau musterte Elena eine Zeit lang, dann fuhr sie plötzlich mit der Handfläche über das nackte Fleisch des Jungen. Wo ihre schrumpelige Haut die seine berührte, strahlte die Haut des Jungen in einem blendenden Licht auf. Sie nickte, zufrieden mit diesem Ergebnis. »Damit haben wir mehr als ausreichend Energie zur Verfügung«, murmelte sie. »Und das nur mit ein paar Tropfen deines Bluts.« Sie straffte sich und wich aus dem Wasser zurück. »Kein Wunder, dass das Schwarze Herz sich vor dir fürchtet.«
»S … Soll ich jetzt gehen?« fragte Elena.
»Ja, Kind. Mach langsam. Lass der Luftblase Zeit, sich um dich herum voll zu entwickeln.«
Elenas und Er’rils Augen trafen sich für einen flüchtigen Moment. Er sah die Angst in ihren Augen und wusste um ihre Verletzlichkeit. Er spürte, wenn er in diesem Augenblick seine Meinung mit Nachdruck vorbrächte, würde sie klein beigeben. Er öffnete den Mund, um eben dies zu tun, doch sein Herz erlaubte es ihm nicht. Er trat näher ans Wasser. »Pass gut auf dich auf, Elena. Ich weiß, dass du es schaffst.«
Sie schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. Eine Mischung aus Stolz und Entschlossenheit bemächtigte sich ihrer. Sie straffte die Schultern und bewegte sich - geführt von dem Jungen - die Stufen hinunter ins tiefe Wasser.
Jetzt war es an Er’ril, zu zittern, während er zusah, wie der See sie verschluckte. Er musste sich sehr beherrschen, um nicht hinabzutauchen und sie an die Luft und ins Licht zurückzuziehen. Er hatte die Hand fest zu einer Faust geballt.
»Sie wird keinen Schaden nehmen«, sagte Mikela neben ihm, doch ihre Stimme bebte und verriet ihre Besorgnis.
Ferndal, der neben Er’ril saß, stieß mit der Nase gegen Er’rils Faust. Auch der Wolf brauchte so etwas wie Zuspruch.
Er’ril entspannte die Hand und kraulte Ferndals Fell. »Elena schafft es«, wiederholte er.
Er sah, wie das Licht des Jungen im Wasser heller aufleuchtete. Aus der Tiefe schimmerte das stille Bild des Jungen mit dem Mädchen wie die von Scheinwerfern erhellte Bühne einer Zaubernummer. Elena bemühte sich angestrengt, neben dem Sumpfkind zu bleiben. Der Auftrieb des Wassers hatte anscheinend keine Wirkung auf den Jungen. Er stand einfach auf der Treppe, als ob keine Wasserwirbel ihn umgäben, während Elena, die den Arm des Jungen als Anker benutzte, alle Mühe hatte, nicht den Halt zu verlieren.
Plötzlich blubberten erneut Blasen um den Jungen herum, und ein phosphoreszierender Strudel verschluckte die Szene. Er’ril hielt die Luft an, bis sich das Brodeln legte und er Elena wieder
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