Alasea 02 - Das Buch des Sturms
gerutscht und baumelte jetzt an ihrem Hals über dem Wasser. Sie griff nach der kleinen geschnitzten Phiole, die an einer Kordel hing. Die Kordel war aus den Haaren ihrer toten Tante Fila geflochten. Ein Schwall von Erinnerungen durchflutete sie: wohltuende Erinnerungen, die nach Zimt und Mehl rochen, Erinnerungen an die Zeit, die sie in der Bäckerei ihrer Tante verbracht hatte, und unerfreuliche Erinnerungen an Blut und Schrecken. Tante Fila war in Winterberg auf der Straße gestorben, damit Elena den Klauen eines Skal’tums entkommen konnte.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie umklammerte die Phiole fest mit der rechten Hand, so fest, dass sie sich an einer scharfen Kante die Haut aufritzte und Blut herausquoll. »Ich brauche dich, Tante Fila«, rief sie ihrem Spiegelbild zu.
Elena erwartete keine Antwort. Sie hatte während der Zeit, die sie bei Krals Leuten verbracht hatte, viele Male versucht, mittels der Magik in dem Amulett Verbindung zu ihrer Tante aufzunehmen. Es war ihr kein einziges Mal geglückt. Entweder war die elementare Magik aus der Phiole entwichen, oder ihre Tante befand sich jetzt an einem Ort außerhalb ihrer Reichweite. Dennoch gab es ihr ein kleines bisschen Trost, dieses Andenken an ihre Familie am Herzen zu tragen. Sie drückte die Phiole noch fester, da ihr nicht nur ihre Tante, sondern auch ihr Onkel Bol einfiel, der ihr Filas Amulett gegeben und sie über dessen Gebrauch aufgeklärt hatte. »Such meine Schwester im Spiegelbild«, hatte er in den Ruinen der alten Schule eindringlich von Elena gefordert. »Wenn sie kann, wird sie kommen.«
Elenas Griff lockerte sich, als ihr Herz vom Schmerz über all das, was sie verloren hatte, erfasst wurde. Die Phiole, die Elena jetzt entglitten war, schwang über dem Wasser. Ein Tropfen ihres Blutes kullerte von der Jadeoberfläche ins Wasser und erzeugte eine leichte Kräuselung. Während sich die kleinen Wellen ausbreiteten, erstrahlte ein milchiges Licht an der Wasseroberfläche.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Elena, wie sich das Licht wie vergossene Sahne ausbreitete. »Tante Fila?« flüsterte sie.
Der Lichtfleck drehte und vergrößerte sich immer noch.
»Bitte, Tante Fila, ich brauche dich.« Elena umklammerte das Amulett erneut, und ihre Tränen verbanden sich mit dem Wasser.
Dann formte der Lichtschimmer wie eine schwache Erinnerung das undeutliche Bild ihrer verlorenen Tante; das vertraute Gesicht war in Lichtwirbel gehüllt.
Elenas Kehle zog sich vor Traurigkeit und Rührung zusammen. Der Anblick ihrer Tante riss alte Wunden auf, die kaum verheilt waren.
Das Bild wurde klarer. Die strengen Züge ihrer Tante wurden erkennbar, ihre Augen funkelten feurig. Worte stiegen aus dem Wasser auf, rasch und drängend gesprochen: »Kind, die Zeit ist knapp und die Entfernung zu groß, um die Verbindung lange aufrecht zu erhalten. Aber ich sage dir: Du befindest dich in großer Gefahr. Du musst fliehen!«
Das waren nicht die tröstenden Worte, die zu hören Elena erwartet hatte. »Fliehen … aber … wohin denn?« stotterte sie, und der Damm der Tränen in ihren Augen brach.
»Beruhige dich, mein Kind. Genug von diesem Unsinn. Wisch dir das Gesicht ab. Tränen sind doch nur vergeudetes Salz.«
Elena gehorchte ihrer Tante, ohne nachzudenken, und wischte sich die Augen. Tante Fila, eine eiserne und fleißige Frau, war nicht an Widerreden gewöhnt. Selbst der Tod hatte ihrer Entschlossenheit nichts anzuhaben vermocht.
»So, jetzt sieh dich mal nach hinten um.«
Elena reckte den Hals und drehte den Kopf. In der Ferne hatte der Abend das höher gelegene Grasland verschluckt. Doch zwischen den Hügeln schimmerte ein roter Schein am Horizont.
Hinter ihr erklärte Tante Fila: »Das ist das Lager deiner Feinde. Dort befinden sich deine Freunde. Doch zwischen dir und ihnen steht ein Geschöpf der schlimmsten Art, der schwärzesten Magik. Um deine Gefährten zu befreien, musst du dieses Wesen besiegen.«
Elena wandte sich wieder dem Geist im Wasser zu. »Wie soll ich das machen? Meine Magik ist beinahe vollständig verbraucht.«
Ihre Tante sah sie stirnrunzelnd an. »Das spüre ich. Deine Magik ist für mich wie ein Leuchtfeuer. Aber jetzt strahlt es nur noch schwach, und was dich heute Nacht erwartet, ist schwärzer als die tiefste Grube. Du kannst es nicht besiegen. Noch nicht. Du musst weglaufen.«
Elena schniefte, um die Tränen zurückzudrängen. »Und was ist mit den anderen?«
»Sie sind verloren.«
»Aber ich kann sie nicht
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