Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Fell. Sie gestattete sich einen Augenblick der Erleichterung, dann ließ sie von ihm ab. Wenn der Wolf noch lebte …? Sie hob die Axt wieder auf. »Die anderen«, flüsterte sie dem Gestaltwandler zu. »Weißt du, wo sie sind?«
Ferndal drehte sich schnell um, dann sah er sie über die Schulter an. Ein Wolf führt einen anderen an den versteckten Fallen eines Jägers vorbei.
Elena nickte. Obwohl in ihren Adern kein Si’lura-Blut floss, verstand sie die Botschaft des Gestaltwandlers. Während des langen Winters hatte sie ihre Fähigkeit, sich mit dem Wolf zu verständigen, erheblich gesteigert, da ihre Magik ihr ermöglicht hatte, Bande zu schmieden, wo ihr Blut keine schuf. Sie winkte ihn zu sich, doch statt zu kommen, schickte Ferndal noch ein weiteres Bild aus. Elena riss die Augen weit auf, und ihr Herz verkrampfte sich. Bevor sie etwas sagen konnte, huschte der Wolf zwischen den Gräsern davon, und seine Gestalt verschmolz wieder mit den Schatten.
Elena folgte ihm mit schweren Beinen; das Bild vor ihrem geistigen Auge war immer noch lebhaft: Eine nackte Frau von atemberaubender Schönheit steht vor gefangenen Wölfen. Aus ihren Lenden strömen giftige Schlangen zu dem Rudel.
Er’ril merkte, wie ihm die Zunge schwer wurde. Wie konnte das sein? Er starrte die nackte Frau vor ihm an, deren Schenkel von schwarzem Blut besudelt waren. Ihr Gesicht, von schmerzhafter Schönheit, war so kalt wie polierter Stein, und ihr ebenholzschwarzes Haar, das einst ein dichter Vorhang der Nacht gewesen war, war jetzt von einer krausen weiße Strähne durchzogen. Doch was das Schlimmste war: Er’ril sah den Wahnsinn, der in ihren Augen tanzte.
Wie Er’ril so an den Pfahl angebunden dastand, versuchte sein Geist, die Erinnerungen an ein junges Mädchen, das er vor vielen Wintern gekannt hatte, mit der Frau, die jetzt vor ihm stand, in Einklang zu bringen. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Es war an der unwirtlichen Küste im Norden gewesen, in einer Stadt, die ständig vom Nebel des Meeres verhüllt war und wo die Luft immer nach Salz und Frost geschmeckt hatte. Er erinnerte sich an die junge, zurückhaltende Frau, Tochter eines Fischers, auf die sein Blick gefallen war, während er in einer Hafenkneipe für Kupferstücke Gauklerkunststücke vorführte.
Unerklärlicherweise hatte er sich zu dieser Maid hingezogen gefühlt und ihre Gesellschaft gesucht. Ihr feines Gesicht und das seidenweiche Haar waren ihm inmitten der von Wind und Wetter gegerbten Leute der nördlichen Landschaft so fehl am Platze vorgekommen wie eine Rose mit samtigen Blütenblättern auf einem kargen Fels. Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, während er mit den brennenden Stöcken jonglierte.
Nachdem er seine letzte Darbietung auf den Zedernholzbrettern der Bühne hinter sich gebracht hatte, hob er seinen Sammelteller auf und nahm die Münzen an sich, dann bahnte er sich einen Weg durch die Menge bärtiger Männer und verhärmter Frauen, um zu der zierlichen Frau im hinteren Teil der Schenke zu gelangen.
Sie hielt die Augen schüchtern gesenkt, als er an ihren Tisch trat. Auch als er sich vorstellte, blickte sie ihn kaum an. Dann sprach sie zum ersten Mal, und ihre Stimme war so sanft und weich wie ihre Haut. »Ich heiße Vira’ni«, sagte sie; ihr langes schwarzes Haar breitete sich wie Flügel zu beiden Seiten ihres erhobenen Gesichts aus. In ihren feuchten blauen Augen sah er eine Traurigkeit, die der Leere in seiner eigenen Brust entsprach.
In diesem Augenblick spürte Er’ril, dass sie sich gegenseitig brauchten. Er hatte das Bedürfnis, für eine Weile das Dasein auf der Straße aufzugeben, und sie sehnte sich nach einem Herzen, das sie ihr Eigen nennen konnte. Und so hatten sie sich bis tief in die Nacht, ja bis zum nächsten Morgen unterhalten.
Schließlich stellte sie ihn ihrer Familie vor, die ihn wie einen lange verlorenen Sohn bei sich aufnahm. Er hatte die Absicht gehabt, nur für ein paar Tage zu bleiben, entdeckte jedoch die schlichten Freuden des Lebens am Meer. Er half dabei, das beschädigte Boot der Familie instand zu setzen, und bevor er recht wusste, was geschah, wurden aus Tagen Monate. Vira’nis Vater unterwies ihn im Umgang mit den Netzen und den Launen des Meeres, während ihr Bruder ihn in die Geheimnisse und Wunder der Küste und der feuchten Wälder ringsum einführte. Und während all der Zeit kamen sich er und Vira’ni immer näher. Ihr Vater schien sogar sehr angetan zu sein von der Wahl, die
Weitere Kostenlose Bücher