Alasea 02 - Das Buch des Sturms
seine Tochter getroffen hatte. »Einarmig oder nicht, du hast einen kräftigen Rücken und ein gutes Herz«, hatte er eines Abends zu Er’ril gesagt, als sie miteinander vor dem Feuer saßen und Pfeife rauchten. »Ich wäre stolz, dich Sohn nennen zu dürfen.«
Plötzlich durchbrachen Worte seine Erinnerung und holten ihn von der Küste des Nordens zurück zu dem Pfahl auf der Wiese. Er sah in Vira’nis große blaue Augen. »Warum hast du mich verlassen?« Jetzt sprachen Wahnsinn und Dunkelheit aus diesen Augen, die einst so voller Liebe geleuchtet hatten. Ihre Stimme klang fast hysterisch schrill, und sie zupfte an der weißen Strähne in ihrem Haar. »Du wusstest, dass ich ein Kind unter dem Herzen trug. Dein Kind. «
Er’ril wich ihrem Blick aus. »Ich wollte dir nicht wehtun«, murmelte er. Und das stimmte. Die Zeit in der Wärme und Geborgenheit ihrer Familie hatte die Leere in Er’rils Brust allmählich verschwinden lassen. Geheilt von der Sehnsucht, an der er nach der langen Wanderschaft auf der Straße gelitten hatte, war er zur Besinnung gekommen und hatte gewusst, dass er weiterziehen musste. Bei Vira’nis Familie hatte er den Frieden gefunden, den er brauchte, doch um welchen Preis? Vira’nis Schwangerschaft hatte Er’ril schließlich gezwungen zu erkennen, wie selbstsüchtig sein Handeln war. Er würde niemals altern, doch Vira’ni und ihr Kind würden altern. Er wusste, dass es ihm nicht bestimmt war, ein Zuhause und Kinder zu haben. Das war nur etwas für Männer, die alterten, die gemeinsam mit ihren Frauen alt wurden, nicht für einen Mann, der schon seit vielen hundert Wintern lebte und der vielleicht noch sehr lange leben würde. Nein, die Straße war sein einziges wahres Zuhause.
Und da er wusste, dass es Vira’ni nur noch mehr schmerzen würde, wenn er die Sache hinauszögerte, täuschte er seinen eigenen Tod vor. Eines Tages, als ein Unwetter aufzog, fuhr er allein in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus und kehrte einfach nie wieder zurück.
»Ich habe nicht begriffen …«, sagte er jetzt, um eine Erklärung bemüht. »Ich dachte …«
Vira’ni unterbrach ihn, und ihr Blick war weit in die Vergangenheit gerichtet. »Mein Vater hat sich so sehr für mich geschämt! Ein Kind im Leib zu tragen … ohne einen Ehemann! Nachdem du auf dem Meer verschwunden warst, hat mich mein Vater zu einer alten Vettel geschleppt, die irgendwo in den Bergen hauste. Sie hat mir ein Mittel aus zerstoßenen Blättern verabreicht, das Krämpfe in meinem Bauch auslöste.« Sie verzog das Gesicht, als ob sie den Schmerz erneut empfände. »Das Blut! So viel Blut! Das Mittel hat mir das Kind aus dem Leib geraubt. Mein armes süßes Kind!«
Er’rils Herz erstarrte bei ihren Worten.
»Aber mir waren Gerüchte zu Ohren gekommen«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten wieder auf. »Gerüchte von einem einarmigen Gaukler, der im tiefen Süden herumreiste. Ich wusste, das musstest du sein! Ich wusste, dass du nicht tot sein konntest. Nach ein paar Tagen, nachdem meine Blutungen aufgehört hatten, floh ich aus der Hütte der Vettel und machte mich auf die Suche nach dir. Ich wanderte von Ort zu Ort.« Bei den folgenden Worten drohte Vira’nis Stimme zu versagen, als ob die Erinnerung sie so sehr schmerzte, dass sie nicht einmal darüber sprechen konnte. »Dann … eines Abends, auf der Straße … fand er mich. Schwarze Flügel, Reißzähne, das Zischen von Schlangen. Er packte mich und brachte mich in sein Verlies.« Tränen rannen ihr übers Gesicht, während unterschiedliche Gefühle in ihrem zitternden Körper gegeneinander ankämpften. Sie sah Er’ril mit wilden Augen an. Hass und Kummer mischten sich in ihren verzerrten Zügen. »Wo warst du? Warum hast du mich nicht beschützt? Ich konnte ihn nicht von seinem Tun abhalten.«
Er’ril wandte den Kopf ab. »Es tut mir Leid«, flüsterte er, doch selbst in seinen eigenen Ohren klangen die Worte hohl.
Ihr Gesicht wurde härter. Sie wischte sich mit einer schroffen Handbewegung die Tränen weg und kniff die Augen zusammen, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. »Ich brauche dein Mitleid nicht, Er’ril. Das Schwarze Herz war liebevoller zu mir als du.« Sie lachte schrill und deutete nach unten. »In seinem Verlies kam sein geflügeltes Ungeheuer eines Nachts zu mir und bescherte mir seine Gabe: ein neues Baby als Ersatz für das deine.«
Um ihre Beine herum tollte ein albtraumartiges Geschöpf. Es hatte die Maße eines großen Hundes und schien nur aus
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