Alasea 02 - Das Buch des Sturms
zu verbergen. Sie hielt den Atem an und spähte um die Ecke des Zeltes aus Rehleder. Bei dem Anblick, der sich ihr nun bot, hätte sie beinahe die Beherrschung über ihre straff im Zaum gehaltene Magik verloren.
Fünf Pfähle steckten im Boden, und ihre Freunde waren daran angebunden. Ein albtraumartiges Geschöpf stakste gerade von einem der Pfähle weg. Es war ganz Flügel, schwarze Schuppen und gegliederte Beine. Und vor ihnen allen stand eine schlanke, nackte Frau, eingehüllt in lange schwarze Haare mit einer einzigen milchweißen Locke, und beobachtete sie eindringlich. Anscheinend spürte die Frau Elenas Augen auf sich und wandte sich in ihre Richtung um. Das Gesicht der Frau war so weiß wie die vom Mondlicht beschienene Locke und so kalt wie eine sonnenlose Höhle. Elena sprang mit einem hastigen Satz hinter das Zelt zurück, bevor die Augen der Frau sie erspäht hatten.
Sie zitterte, nicht wegen des Anblicks der Frau oder des Ungeheuers, sondern wegen der Dinge, die sie in diesem kurzen Augenblick außerdem entdeckt hatte. Es konnte nicht sein! Und doch wusste Elena, dass es wahr war. Das Bündel am letzten Pfahl bestand nur noch aus loser Haut und gebrochenen Knochen, doch Elena kannte das honigblonde Haar und das grüne Gewand der geschändeten Gestalt. Es war Ni’lahn.
Elena konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie kauerte sich hinter dem Zelt nieder und hielt sich die blutige Faust vor den Mund, um zu verhindern, dass man ihr Schluchzen hörte. Sie war zu spät gekommen. Ni’lahn war tot.
Eine eiskalte Stimme ertönte. Elena wusste, dass sie zu der fremden Frau gehörte. »So, Er’ril, wo ist die Hexe?«
»Ich verrate dir gar nichts, Vira’ni. Du kannst uns alle umbringen.«
»O Er’ril, du hast mich noch nie verstanden. Ich habe die kleine blonde Frau nicht getötet, um dir Angst zu machen. Diese Leute bedeuten mir nichts, ehrlich. Sie sind einfach nur Nahrung für mein Baby. Mein Herr hat mir ein Werkzeug gegeben, um dich zum Reden zu bringen, ob du einwilligst oder nicht - aber es ist eine Methode, die ziemlich viel Sauerei verursacht.«
»Ich werde die Kleine nicht verraten.«
»Aber, Er’ril, du bist doch so gut darin, Kinder im Stich zu lassen. Selbst dein eigenes.«
»Die Hexe befindet sich außerhalb deines Zugriffs, Vira’ni. Ich habe sie sehr gut versteckt. Sie befindet sich sogar außerhalb des Zugriffs des Großen Gul’gothas.«
Elena zitterte in ihrem Versteck. Er’ril musste von ihrer Flucht auf Rorschaff wissen und annehmen, sie sei inzwischen schon auf halbem Weg in die Ebene. Mit diesen Lügen hoffte er offenbar, einen größeren Vorsprung für sie herauszuschinden. Er war bereit, sich selbst und die anderen zu opfern, nur um für sie ein bisschen zusätzliche Zeit zu gewinnen.
Sie durfte nicht zulassen, dass er dieses Opfer brachte, vor allem, da es eine sinnlose Geste war. Sie befand sich nicht auf der Flucht. Sie war hier. Der Tod ihrer Gefährten würde nichts nützen.
Die Frau sprach weiter. »Vielleicht sagst du die Wahrheit, Er’ril, aber ich werde dennoch herausfinden, wohin du sie geschickt hast. Aber zunächst einmal: Mein Baby hat so schrecklichen Hunger. Ist das bei Kindern nicht immer so? Sie essen, bis sie satt sind, und ein paar Augenblicke später schreien sie schon wieder nach mehr.«
Elena hörte ein jämmerliches Winseln, das ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte. Es hörte sich an wie das Todesblöken eines Lammes, das sie einst gefunden hatte, nachdem es von einer Wildkatze schrecklich zugerichtet worden war, ein Schrei voller Blut, Schmerz und der Gewissheit des Sterbens.
»Mein Baby muss groß und stark werden, damit es fliegen und deine Hexe erjagen kann.«
Elena duckte sich noch tiefer und wischte sich die Tränen aus den Augen. In dieser Nacht würde es keine weiteren Opfer mehr geben! Blut von ihren Fingern brannte ihr in den Augen, während sie sich die Wangen abwischte - und bei der Berührung mit ihrem Blut veränderte sich die Welt um sie herum. Nun sah sie alles mit anderen Augen. Die Magik in ihrem Blut hatte ihre Sicht verändert. Sie konnte jetzt in das Fleisch ihrer Hand hineinblicken und das flammende azurblaue Licht erkennen, das darin gefangen war; ihre Augen öffneten sich für die Strömungen der Magik in ihrem Inneren.
Die eisige Stimme der Frau schnitt durch Elenas kurzzeitige Entrücktheit. »So, jetzt iss noch was, mein Süßes. Warum probierst du nicht den großen Mann da drüben? Er sieht stark aus und
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