Alasea 02 - Das Buch des Sturms
geklappt!
Sie beobachtete, wie Vira’ni zu dem Ungeheuer trat und einen einzelnen Finger hob, um einen seiner bebenden Flügel zu liebkosen. »Na, na, komm da weg! Wir dürfen Er’ril nichts antun … zumindest jetzt noch nicht.«
Ni’lahn sah mit Erleichterung, dass das Untier ein Bein nach dem anderen zurückzog und von seinem Platz herunterkletterte. Es schüttelte ärgerlich und enttäuscht die Flügel und schrie in die Nacht hinein. Ni’lahn merkte, wie ihr bei diesem Laut die Knie schwach wurden.
Zum Glück besänftigte Vira’ni das Geschöpf, indem sie ihm die Hand flach auf den Rücken legte. »Pschscht, reg dich nicht auf! Ich weiß, dass du Hunger hast.« Die Dämonin hob deutend einen Arm. »Geh, iss was!«
Ni’lahn riss die Augen vor Entsetzen weit auf. Mit schlagenden Flügeln und scharrenden Beinen stürzte sich das Untier auf sie.
»Danke, dass du mich an meine Pflicht erinnert hast«, sagte Vira’ni. »Zur Belohnung darfst du Er’rils Stelle einnehmen.«
Ni’lahns Hinterkopf schlug krachend gegen den Pfahl, als das Spinnenungeheuer sie ansprang. Es schlang die acht gegliederten Beine um sie und klammerte ihre kleine Gestalt von den Fußknöcheln bis zur Brust fest. Aufgrund des Schlages gegen ihren Schädel tanzten winzige Lichter durch Ni’lahns Sichtfeld, doch die wirbelnden Funken waren zu schwach, um ihr den Anblick der sabbernden Kiefer zu ersparen, die sich ihrem Hals näherten.
Als das Ungeheuer Ni’lahns Kehle aufriss, wurde sie vor Schmerz sofort ohnmächtig. Nur ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen, als sie starb, ein leiser Seufzer, der vom Wind davongetragen wurde.
9
Elena durchwanderte eine Schreckenslandschaft. Leichen lagen wie verstreutes Brennholz überall im Lager herum. Nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Kinder und grauhaarige Alte. Ihre geschwärzten Bäuche waren prall aufgebläht wie reife Melonen, und kleines Getier wimmelte unter ihrer gespannten Haut herum. Elena hielt den Blick abgewandt und versuchte, sich von der Angst nicht überwältigen zu lassen. Nur die Vierbeiner waren verschont geblieben. Da und dort wieherten Pferde nervös, und Hunde tappten mit gesenkten Köpfen zwischen den Zelten umher, als ob sie den Schlag einer strengen Hand fürchteten. Die überlebenden Tiere wichen ängstlich vor ihr und dem großen Baumwolf, der ihr vorauslief, zurück. Keiner der Hunde stellte sich ihnen in den Weg.
Sie schlich weiter durch die Außenbereiche des Lagers. Anscheinend machte Ferndal einen Bogen um die Zelte und strebte dem östlichen Rand des Lagers zu. Von dort konnte sie jetzt deutlich Fetzen erhobener Stimmen hören. Einige wenige hatten also überlebt. Aber wer?
Die Innenfläche ihrer linken Hand, mit der sie den Holzgriff von Krals Axt umklammert hielt, wurde allmählich rutschig vor Schweiß. Verborgen in der Tasche nahe ihrem Herzen befand sich der schlammbeschmutzte Gegenstand, den Ferndal aus dem Lager entwendet hatte. Sein Gewicht bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit. Sie würde es schaffen, redete sie sich immer wieder im Stillen ein. Sie machte einen großen Schritt über den übel zugerichteten Leichnam eines Kindes, wobei sie sich bemühte, nur ja nicht hinzusehen. Sie musste stark bleiben, die Beherrschung behalten. Ihre rechte Hand war zur Faust geballt, leer, doch nicht unbewaffnet. Elena hatte sich mit dem Hexendolch die Hand blutig geritzt, und sanfte Lichtblitze der Macht züngelten empor und tanzten um ihre verletzte Faust; doch vorerst hielt sie ihre Macht noch im Zaum.
Sie war bereit.
Elena trat um die Ecke eines Zeltes und sah Ferndal vor sich. Er kauerte am Boden und blickte sie mit funkelnden Augen an. Die Waldkatze schleicht sich durchs Unterholz, um das Kaninchen zu überraschen.
Elena duckte sich tiefer, während Ferndal lautlos voranlief. Die schwere Axt auf der Schulter tragend, gab sie sich alle Mühe, mit Ferndal Schritt zu halten, aber die Wolfspfoten huschten mit unbeschreiblicher Leichtigkeit über das zertrampelte Gras und den Schlamm, und der Abstand zwischen ihr und dem Wolf wurde bald immer größer. Sie biss sich auf die Unterlippe und hastete mit gekrümmtem Rücken, so schnell sie konnte, hinter dem sich immer weiter entfernenden schwarzen Schatten her. Schon verschwand Ferndal um die Ecke des letzten Zeltes.
Sie folgte ihm, doch als sie dieses letzte Zelt erreichte, hielt sie inne. Dahinter erstreckte sich nur offenes Wiesengelände, wo es keinerlei Möglichkeit gab, sich
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