Alasea 02 - Das Buch des Sturms
noch vorhanden war. Sie bewachten die Wege in die Stadt und schützten A’loatal vor unbefugten Eindringlingen. Außer der Bruderschaft selbst streiften nur noch deren Diener und vielleicht eine Hand voll anderer Gestalten durch die Reste der alten Stadt. A’loatal war für die Welt verloren, eine Stadt der Sage, verborgen vor dem Auge des Großen Gul’gotha, sowohl durch die Zeit als auch durch die Magik - das glaubte jedenfalls die Bruderschaft.
Offenbar wusste nur Joach über den Dunkelmagiker Bescheid, der sich bei den Brüdern als einer der Ihren ausgab. Doch welche Absicht verfolgte dieser Mörder in einer halbwegs verlassenen Stadt?
Joach folgte dem gebeugten Rücken des verkrüppelten alten Magikers. Nach einigen Wegbiegungen ahnte er, welches Ziel der Alte anstrebte: den Westturm, nach seinem einzigen Bewohner ›Prätors Speer‹ genannt.
Während er mit schlaffem Kiefer die anderen belauscht hatte, hatte Joach ebenfalls erfahren, was die anderen Bewohner des Gebäudes von der einsamen Gestalt hielten, die allein im Westturm wohnte. Obwohl der Prätor das Oberhaupt der Bruderschaft war, bekam man ihn selten zu Gesicht, und wenig war über seine Vergangenheit bekannt. Sein wirklicher Name war seit langem ausgelöscht, so wie es für jemanden in seiner Stellung üblich war. Einige behaupteten, der Prätor lebte schon seit fünfhundert Wintern, während andere sagten, es seien immer wieder andere Männer, die den Rang des Prätors einnähmen, einer als Nachfolger des anderen.
Wer war der Mann in dem Turm also wirklich? Und was hatte der Dunkelmagiker mit dem Anführer der Bruderschaft zu schaffen?
Greschym hatte den Prätor seit Joachs Ankunft in A’loatal viermal in seinem Turm besucht. Dennoch hatte Joach nichts über das geheimnisvolle Ordensoberhaupt in Erfahrung gebracht. Jedes Mal hatte er bei der Treppe stehen bleiben müssen, die hinaufführte zu dem fernen Turmzimmer, wenn Greschym zu seiner Verabredung gegangen war. Nie war es ihm gestattet gewesen, den alten Mann zu begleiten.
Joachs Beine wurden langsamer, als sich der Dunkelmagiker schließlich durch die letzten staubigen Korridore schlängelte und die unterste Stufe von ›Prätors Speer‹ erreichte. Joach war im Begriff stehen zu bleiben, in Erwartung des Zeichens zum Anhalten, doch es kam nicht.
Greschym stieg die Wendeltreppe hinauf.
Ohne den Befehl zum Anhalten hatte Joachs Körper keine andere Wahl, als weiterzugehen. Das entsprach dem Befehl, den sein Herr ihm als Letztes gegeben hatte.
Er stieg dem Dunkelmagiker hinterher. Die Stufen erschienen ihm endlos; immer weiter zogen sich die Windungen hinauf. Hin und wieder kamen sie an einem Fensterschlitz vorbei, und Joach erhaschte einen Blick auf die Ruinen der Stadt unter ihnen. Eingestürzte Mauern lagen verstreut als zerbröckelte, moosbewachsene Steinhaufen da; Teiche aus brackiger Sole fleckten die Landschaft, während das Meer von unten noch blubberte. Aus einigen dieser dunkelgrünen Teiche lugten die Türme uralter Gebäude heraus wie steile Inseln. Meeresnebelschwaden waberten durch die Überreste der ehemals so stolzen Stadt, während über alledem Möwen in trägen Spiralen kreisten, wie Geier, die am Fuße eines Berges einem sterbenden Kalb auflauerten.
Doch die ergreifendste Wirkung ging von etwas Unsichtbarem aus, sodass man ein schmerzlich-melancholisches Verlangen nach all der Schönheit spürte, die für immer verloren war. Flüchtige Bilder der einstigen majestätischen Pracht der Stadt erschienen im gelegentlichen Funkeln von Fenstern aus buntem Kristallglas, eingefasst wie Juwelen in den Ruinen, und den hohen Marmorskulpturen, die jetzt umgefallen oder beschmutzt waren, Darstellungen ehrwürdiger Männer und Frauen, deren Gesichter von großartigeren Zeiten und höheren Zielen sprachen. Obwohl die Stadt tot war, erzählte sie noch Geschichten von einem ruhmvollen Reich, einer friedvollen Epoche. Sie erzählte von Alasea, bevor Gul’gotha das Land vergewaltigt hatte.
Wenn Joach hätte weinen können, dann hätte er das getan, während er auf diese Landschaft der Vergangenheit blickte. Hier breitete sich ein kleiner Ausschnitt von Alasea als Ganzem aus. Ein Land voller Schönheit, zerbrochen und sterbend.
Joachs Körper kletterte seinem Herrn hinterher. Sie kamen an einigen Wachtposten vorbei, doch anscheinend waren diese blind für den verkrüppelten Mann und seinen schwachsinnigen Diener. Joach bemerkte einen gewissen Glanz in ihren Augen, als sie an ihnen
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