Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Sein Gesicht, das früher einmal von der Arbeit im Obsthain sonnengebräunt gewesen war, war jetzt schneckenbleich, und sein Fleisch war bis auf die Knochen eingesunken. Seine Wangenknochen zeichneten sich kantig unter eingefallenen Augenhöhlen ab. Die roten Haare hingen ihm zottelig und matt bis weit über die Schultern herab, und seine grünen Augen starrten ihn stumpf und trüb aus dem Spiegel an.
Er war der wandelnde Tod.
Kein Wunder, dass der Küchengehilfe ihn unbedingt aus seiner Sichtweite haben wollte. Sogar Joach selbst war erleichtert, als sein Körper an dem Spiegel vorbei und das Bild verschwunden war.
Im vergangenen Monat hatte Joach den Kampf gegen die ihm durch den Zauberbann aufgezwungene Sklaverei aufgegeben und sich in sein Schicksal gefügt. Manchmal schrie er noch in seinem knöchernen Gefängnis laut auf, doch nie wurde er gehört. Inzwischen erschien ihm der Tod als die einzige Möglichkeit der Flucht. Er zog sich tiefer in seinen Schädel zurück. Irgendwann würde sein Körper durch Verhungern zugrunde gehen; dann wäre er frei.
Mutlos schleppte er das Tablett in die Zelle seines Herrn. In dem Raum gab es keinerlei schmückende Ausstattung. Zwei schmale Betten, ein alter Schrank und ein wurmzerfressener Tisch stellten das einzige Mobiliar dar. Ein zerschlissener Teppich bedeckte den Boden, aber der war wenig dazu geeignet, die Füße gegen die Kälte der Steine zu schützen. Obwohl in einem kleinen Kamin ständig einige Holzscheite brannten, linderte die schwache Hitze die Kälte kaum. Es hatte den Anschein, als ob der Raum sich des Bösen bewusst wäre, das er enthielt, und seinen Bewohnern jegliche Wärme und Freude versagte.
Zusätzlich zu der allgegenwärtigen Kälte herrschte in dem Raum auch noch stete Düsternis. Abgesehen von der einzelnen Öllampe auf dem Tisch, kam das einzige Licht durch einen schmalen Fensterschlitz, der auf einen der winzigen Innenhöfe des Gebäudes hinausging. Irgendwo jenseits der Mauern der Burg breitete sich die halb versunkene Stadt A’loatal aus - und jenseits davon nur noch das Meer. Seit seiner Ankunft hatte Joach weder das Meer noch die Stadt gesehen, sondern nur die Säle und Kammern des weitläufigen Gebäudes, das inmitten der einst mächtigen Stadt lag. Wie ein zweites Gefängnis hielt es seinen Körper so fest, wie sein Schädel seinen Geist festhielt.
»Stell das Tablett auf den Tisch!« befahl Greschym. Der Dunkelmagiker hatte sich bereits die weiße Kutte mit der Kapuze angezogen. Das bedeutete, dass er vorhatte auszugehen. Er trug dieses Gewand nie, wenn er allein war. Der Stoff schien den Dunkelmagiker ebenso zu stören, wie die weiße Farbe sein schwarzes Herz verhöhnte. Er schüttelte den rechten Ärmel tiefer herunter, um das verstümmelte Handgelenk zu verbergen, dann zog er sich mit der unversehrten Hand die Kapuze über den kahlen Kopf. Er starrte Joach mit den milchigen Augäpfeln eines nahezu Blinden an.
Obwohl Joachs Körper fremdbestimmt reagierte, spürte er das Kribbeln der Haut, als sich diese Augen auf ihn hefteten: Es war, als ob sein eigentliches Ich trotzdem körperlich die Bedrohung wahrnahm, die wie Gift hinter diesen milchtrüben Augen lauerte.
»Komm«, befahl Greschym. »Ich bin gerufen worden.«
Joachs Beine traten automatisch zur Seite, um den Dunkelmagiker vorbeizulassen, und dabei hätte er fast den Fischeintopf auf das makellose Gewand des Zauberers vergossen.
»Stell dieses verdammte Tablett ab, du Narr!« fauchte Greschym, als er an ihm vorbeirauschte. »Muss ich dir denn alles sagen?«
In Joachs Geist bildete sich ein kleines Lächeln. Vielleicht war doch noch ein geringes Maß an Auflehnung in seinem Körper verblieben. Er stellte das Tablett ab und folgte dem Dunkelmagiker wieder zurück in den Flur.
Während der Monate seines Sklavendaseins hatte Joach mehr über sein Gefängnis erfahren, als irgendeiner seiner Bewohner ahnte. Die Mägde, die Diener und sogar die anderen Brüder des Ordens sprachen in Joachs Gegenwart frei heraus, da sie ihn für einen vollkommenen Schwachkopf hielten, der ihre Worte keinem anderen gegenüber wiederholen würde. Also wurden in seinem Beisein Dinge ausgesprochen, die ansonsten verschwiegen worden wären.
Er hatte erfahren, dass die Bruderschaft eine Gruppe von Gelehrten und anderen fähigen Männern war, die sich zusammengefunden hatte, um sich des Erhalts A’loatals anzunehmen und auf den Spuren der alten Magik zu wandeln, die in der versunkenen Stadt immer
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