Alasea 03 - Das Buch der Rache
nur Er’ril an Bord des Piratenschiffes gestorben war, sondern auch die geheimen Träume ihres Herzens.
Nun verstand sie den Schmerz, der ihr Herz einschnürte, und Elena erlaubte sich endlich zu weinen nicht nur um Er’ril, sondern auch um sich selbst. Sie schlang die Arme um die Brust und wiegte sich langsam vor und zurück. Schluchzer und Tränen drängten unkontrolliert aus ihrem Körper. Sie versuchte nicht einmal, irgendetwas zurückzuhalten. Für eine Weile ließ sie es zu, schwach zu sein.
Die Zeit verlor an Bedeutung, da die Trauer sie überwältigte. Ihre Finger fanden eine Tasche und zogen ein Lederband heraus. Es war ein Stück gefärbtes Leder, das Er’ril einst benutzt hatte, um sein langes Haar zusammenzubinden. Sie legte es an ihre Lippen. Der Geruch von Rauch und Feuer haftete noch immer daran, aber neben dieser Erinnerung an seinen Tod schmeckte sie auch die Standi Erde und das Salz seines Schweißes darin. Sie nahm das rote Leder und flocht es sich in das lange Haar. Schweigend nahm sie Abschied.
Es wurde Zeit, den Geist freizulassen, der sie die ganze Zeit über geplagt hatte.
Ihr Herz war zwar noch immer verletzt, aber es begann nun langsam zu heilen, und Elena wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte kein Gefühl mehr dafür, wie weit die Nacht schon fortgeschritten war. Es schien, als dürfte die Morgendämmerung nicht mehr weit sein, aber sie war sich nicht sicher. Plötzlich drang leise Musik in ihr Bewusstsein, die von oben auf dem Deck kommen musste. Elena fühlte sich zu den traurigen Akkorden hingezogen, sie sprachen ihr aus dem Herzen.
Elena richtete sich auf und ließ sich von der Musik einhüllen. Sie kannte das Instrument, das so sorgenvoll klang. Es war Ni’lahns Laute, die aus dem letzten der ausgestorbenen Bäume der Nyphai geschnitzt worden war. Die Klänge erinnerten Elena an die anderen Gefährten, die nicht bei ihr waren: Mikela, Kral, Mogwied und Ferndal. Ohne überhaupt bemerkt zu haben, dass sie sich bewegte, war Elena aufgestanden. Sie wurde von der Musik angezogen wie eine Motte vom Licht.
Im Schwingen der Saiten und in der Resonanz des Holzes hörte Elena das Flüstern ihrer verstorbenen Freundin. Ni’lahn hatte ihr Leben gegeben, wie so viele andere auch, um das Licht nach Alasea zurückzubringen. Aber die flüsternden Saiten betrauerten nicht den Tod, nein, sie sangen leise vom Wunder des Lebens. Sie säuselten von einem Zyklus von Tod und Wiedergeburt, und im Laufe der Akkorde vermischten sich Trauer und Freude allmählich.
Elena trat hinaus in die kühle Spätsommernacht. Die Stern blinkten hell am Himmel, und die Segel flatterten schwerfällig wenn sie gelegentlich von einem Windstoß erfasst wurden. Das Mondlicht tauchte das feuchte Deck in silbernes Licht. Am Bug saß Merik. Er lehnte sich gegen die Reling, die Laute in der Hand. Hinauf zum Mond starrte er, während er spielte. Zu seinen Füßen saß fasziniert von der Musik der Schiffsjunge Tok.
Unter dem Sternenhimmel schwoll die Kraft der Saiten und des Holzes an, und Elena verlor sich im Wunder des Liedes. Die Erinnerung an Ni’lahns Tod hätte ihre Trauer eigentlich noch verstärken müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Sie senkte die Augenlider und ließ die Musik die Schmerzen in ihrem Herzen lindern. Der Tod war nicht das Ende, sang die Laute, sondern der Anfang. Ein Bild von grünem Leben, das winzigem Samen entsprang, blühte vor ihrem geistigen Auge auf.
Die Musik führte ihre Beine zum Bug des Schiffes. Tok murmelte etwas, als sie sich näherte, aber seine Stimme konnte den Bann nicht brechen. Elena fand sich bald an der Reling wieder, wo sie hinaus aufs Meer starrte. In der Ferne schienen Geisterbäume aus den Wellen zu sprießen, als hätte die Musik einen Wald heraufbeschworen.
Elena lächelte bei dem Anblick.
Plötzlich begann der Boden unter ihren Füßen zu schaukeln, bis das Schiff heftig schlingerte. Beinahe wäre Elena über die Reling gestürzt, als das Schiff abrupt an Fahrt verlor. Atemlos klammerte sie sich ans Geländer.
Der Zauber der Laute zerplatzte, als Merik jählings auf die Füße sprang. Er lief zu Elena an die Reling und suchte das Wasser ab. Dabei packte er die Laute an ihrem zarten Hals und schwang sie wie eine Waffe über dem Kopf.
Tok war auf die andere Seite neben Elena gekrabbelt. »Was ist geschehen?«
Der gespenstische Wald in der Ferne verschwand nicht, als die Musik verstummte. Im hellen Mondlicht wurde schnell deutlich, dass
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