Alasea 03 - Das Buch der Rache
Schicksals gegen uns arbeiten?«
Flint setzte sich auf den leeren Platz neben Elena. »Nur blinde Narren vertrauen den Prophezeiungen.«
Elenas Augen weiteten sich.
Er lächelte. »Ich weiß. Das sind merkwürdige Worte aus dem Mund eines Bruders des prophetischen Ordens der Ho’fro, aber dennoch sind sie wahr. Die meisten Prophezeiungen werden nicht in Granit gemeißelt. Sie sind oft nur wie die Schatten, die über Höhlenwände huschen, flüchtige Blicke in eine mögliche Zukunft. Aber die Zukunft ist wie Eis. Sie mag fest und unveränderlich erscheinen, doch wenn auch nur die geringste Wärme darauf einwirkt, fließt sie in neue Kanäle.« Er drückte Elenas Hand. »Es ist nicht so, dass wir gar keinen Einfluss darauf hätten. Es sind unsere Handlungen, die die Zukunft schmieden, und nicht die Worte einiger Propheten, die schon lange tot sind. Nur ein Dummkopf beugt sich tatenlos dem Schicksal und lässt die Axt fallen und du, Elena Morin’stal, bist kein Dummkopf.«
»Aber Er’ril…?«
»Ich weiß, mein Kind. Er war auch mein Freund. Auch er nahm Einfluss auf sein Schicksal, als er sich entschied, allein zu der Statue aus Schwarzstein zu gehen. Lass nicht zu, dass sein Fehler dir deine Zukunft nimmt. Du bist stark genug, um deinen eigenen Weg zu gehen.«
»Ich fühle mich aber nicht sehr stark«, murmelte Elena.
Flint legte die Hand an ihr Kinn und drehte den Kopf der jungen Frau so weit herum, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. »Dein Herz weist Tiefen auf, die du selbst nicht kennst, Elena, aber andere können sie fühlen. Deshalb hast du Er’ril viel bedeutet. Du warst mehr für ihn als nur ein Mündel, das er bewachen musste.« Das Entsetzen in ihrem Gesicht rief auf Flints Lippen ein trauriges Lächeln hervor. »Für jene, die genau hinzusehen vermochten, war sein Herz offen einsehbar
genau wie deines, junge Dame.« Elena befreite sich aus seinem Griff. »Ich weiß nicht, was…« »Leugne nicht, was dein Herz laut bekundet. Wenn du
jemals über diesen Verlust hinwegkommen willst, musst du die Tiefe der Wunde zugeben. Erst dann kannst du deinen Weg fortsetzen.« Er tätschelte ihre Hand noch einmal und stand auf. »Es ist spät. Denk über meine Worte nach. Jetzt ist noch Zeit, um all deine Verluste zu betrauern. Trauere ehrlich, denn nur dann wird dein Herz wieder ganz gesund werden, nur dann wirst du bereit sein weiterzugehen. Um deine Zukunft gestalten zu können, musst du nach vorn blicken und nicht zurück.«
Elena schaute zu Flint auf. Tränen standen ihr in den Augen. »Ich werde es versuchen.«
»Da bin ich sicher. Wie Er’ril kann auch ich die Stärke deines Geistes spüren. Du wirst es schaffen.« Mit diesen Worten verließ er den Raum und ließ Elena zurück, damit sie ihrer Trauer freie Lauf lassen konnte.
Elena fühlte sich wie betäubt, als wäre ihr Körper nicht mehr ihr eigener. Die Worte des alten Bruders brannten in ihrem Kopf. Was hatte ihr Er’ril wirklich bedeutet?
Sie hatte sich immer geweigert, sich ihre wahren Gefühle einzugestehen. Wenn seine bloße Gegenwart ihr Blut in Wallung gebracht hatte die Berührung seiner Hand, sein Atem auf ihrer Wange, sein schiefes Lächeln , hatte Elena ihre eigene Reaktion darauf als belanglos abgetan, als etwas Kindisches. Wie hätte sie es auch wagen können, sich eines Mannes würdig zu fühlen, der schon über fünf Jahrhunderte lang gelebt hatte?
Aber Flint hatte Recht; sie konnte ihr Herz nicht länger verleugnen. Die Gefühle, die sie für den Präriemann empfand, hatte sie in der Vergangenheit immer wie die Liebe zu einem Vater oder einem Bruder eingeordnet. Doch Er’ril hatte ihr mehr bedeutet.
Elena sah sich in dem menschenleeren Raum zum ersten Mal mit der Wahrheit ihres Herzens konfrontiert. »Ich habe dich geliebt, Er’ril.« Ihre Stimme stockte bei seinem Namen, wurde brüchig. Tränen flossen ihr mit einem Mal übers Gesicht, und heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper. Elena brach über dem Tisch zusammen, das Gesicht in den behandschuhten Händen vergraben.
Sie fühlte sich, als wäre ein Damm in ihrem Herzen gebrochen. Bisher versteckte Gefühle überfluteten nun ihre Seele: der Kummer darüber, dass sie diese Worte niemals ausgesprochen hatte, als Er’ril noch am Leben war; die Schuldgefühle wegen ihrer Feigheit; die Wut auf Er’ril, weil er sie so früh schon verlassen hatte. Aber hauptsächlich wurde sie von einer schmerzhaften Woge des Verlustes überrollt. Sie gestand sich ein, dass nicht
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