Alasea 03 - Das Buch der Rache
einhundert Schiffen bauschten sich auf wie die Wolken einer nahenden Sturmfront. Zwischen den Schiffen schwammen die verbliebenen Mer’ai Streitkräfte, an die hundert Drachen mitsamt ihren Reitern. Fast ein Viertel der Krieger des Mer’ai Aufgebots hatte im Sargassum Wald den Tod gefunden, aber die Gegenwart der Überlebenden reichte aus, um den Kampfgeist der Blutreiter aufrechtzuerhalten. Der Sieg über die Skal’ten war am vergangenen Abend auf vielen Decks besungen worden.
Kast richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf sein eigenes Schiff.
Elena und Flint standen nicht weit von ihm entfernt. Flint hielt den Kopf leicht geneigt und unterhielt sich leise mit dem neuen Kielmeister des Schiffes. Nach der Meuterei in der Nacht des Sturmes war dieses Amt dem Sohn des Großkielmeisters, Hant, übertragen worden. Kasts Bruder, Ulster, war tot aufgefunden worden, ermordet durch das Schwert des Ersten Maats. Auch die beiden Maate waren später tot gefunden worden; offenbar hatte es zwischen den Meuterern Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die darauf folgende Untersuchung hatte jedoch keine weiteren Verschwörer enttarnen können. Obwohl Ulster ihm kein richtiger Bruder mehr gewesen war, ärgerte Kast der Tod des Mannes. Er umfasste das Schwertheft mit eisernem Griff. Sollten doch noch andere in die Angelegenheit verwickelt gewesen sein…
Endlich richtete sich Pinorr an der Reling auf. Er räusperte sich. »Es ist zwecklos.«
Kast zog die Brauen zusammen. »Kannst du etwas von dem sehen, was uns erwartet?«
Pinorr richtete die dunklen Augen auf Kast, dann blickte er zur Seite. »Die Meere sind dunkel für meine Augen.« Er streckte die Hand nach seiner Enkelin Scheschon aus, die auf dem Deck saß. Aber die Kleine achtete nicht auf die dargereichte Hand, sondern spielte lieber mit den Schwimmhäuten zwischen ihren Zehen.
Kasts Blick fiel auf genau diese Häute. Er konnte die Verwandlung des Kindes kaum fassen. Zwar wusste er um das Erbe, das sein Volk mit den Mer’ai teilte, aber er hatte große Schwierigkeiten, es auch zu akzeptieren. Kast sah Pinorr erneut an. »Wir sind nur noch eine halbe Tagesreise vom Archipel entfernt. Leistet das Böse, das sich zwischen den Inseln verschanzt hat, deinen Fähigkeiten Widerstand?«
Pinorr stieß nur ein Brummen aus.
Da griff Kast nach dem Ärmel des alten Schamanen. »Du darfst dir keine Schuld daran geben, Pinorr. Wenn du im Wind nichts lesen kannst, dann vermag es niemand. Wir haben immer noch die Mer’ai Kundschafter, vielleicht bringen sie ja irgendwelche Neuigkeiten mit.« Kasts Gedanken wanderten für ein paar Augenblicke zu Saag wan. Sie war zusammen mit ihrer Mutter in den Bauch des riesigen Leviathans zurückgekehrt, der hinter der Flotte herschwamm. Linora wollte vor Beginn des Kampfes den Rat der Ältesten einholen.
Pinorr blickte zu Kast auf, als wollte er etwas sagen, aber dann wandte er sich wortlos ab. Ein gewisses Unbehagen machte sich zwischen den Männern breit.
Da kam Elena zu ihnen. Sie kniete sich neben Scheschon und schenkte Kast ein kurzes Lächeln. Die Gefährten der Hexe waren an Bord der Bleicher Hengst geblieben, da der abgebrochene Mast und die Segel repariert werden mussten. Sobald die südlichen Inseln Maunsk und Raibssattel in Sicht kämen, würden Flint und die Hexe auf ihr eigenes Schiff zurückkehren. Wenn die Schlacht begann, würden sie und die anderen mit der kleineren Slup nach Westen fahren, wo Flint einen geheimen Weg zur Insel wusste. In der Zwischenzeit würden Kast und Saag wan zusammen mit den anderen Blutreitern und Mer’ai die Streitkräfte der Insel ablenken.
So in etwa sah es ihr Plan vor. Kast wünschte sich nur, Pinorr hätte irgendetwas über das Bevorstehende erfahren können. Die Sonne wanderte dem Zenit entgegen. Bald würden sie die Inseln und die versunkene Stadt zu Gesicht bekommen.
»Du spürst gar nichts im Meer?« fragte Elena den Schamanen.
Scheschon sprang plötzlich auf und streckte ihre Hände mit den Schwimmhäuten in die Luft. »Sieh nur, Papa! Ich habe Flügel wie ein Vögelchen!«
Pinorr lächelte traurig und nahm ihre Arme. »Ja, kleine Scheschon. Wir sehen mal nach, ob Mader Geel unser Essen schon fertig hat.«
Aber die Kleine entwand sich seinem Griff und befreite ihre Arme. Sie deutete aufs Meer hinaus zum nördlichen Horizont. »Auf der Insel da drüben fliegen viele große Vögel herum. Weiße Vögel mit scharfen Zähnen. Aber das sind keine lieben Vögel.«
Elena und Kast tauschten
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