Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Ni’lahn, die ihre Laute in den Armen hielt und in die Finsternis starrte. Alle ihre Hoffnungen lasteten auf dieser einsamen Frau. Kral konnte ihre Angst riechen, aber auch ihre Entschlossenheit und ihre Willensstärke.
Sie musste seinen Blick gespürt haben, denn sie drehte sich um. »Bringen wir es hinter uns.«
Kral nickte und wandte sich ab, doch zuvor warf er noch einen letzten Blick auf die Horde am See. Wieder witterte er die Hand des Herrn der Dunklen Mächte. Die Bösewächterin verbarg sich hinter dieser Schwärze, ein Geist unter vielen. Aber was bezweckte sie damit was war ihr Ziel?
Ni’lahn ging als Erste durch die Tür. Nach der Wärme drinnen traf sie die Kälte wie ein Faustschlag. Sie rang nach Luft. Diese Kälte war unnatürlich. So wie die Geister ihren Opfern das Leben aussaugten, entzogen sie jetzt auch der Luft die Wärme.
Sie trat über die Schwelle und ließ auch die großen Wurzeln hinter sich. Vor ihr lag, von Eis gesäumt, der See. Ni’lahn trat ans Ufer und stellte sich der schwarzen Mauer, die sich um die ganze Senke zog und sie alle einschloss. Aus der Nähe konnte sie sehen, wie diese Wand brodelte und kochte. Unmengen von Geistern drängten sich dort.
»Schwestern«, murmelte sie wie ein Gebet. »Hört mich, und zieht friedlich ab.«
Sie hob ihre Laute. Ihre Gefährten sammelten sich hinter ihr. Rodricko stand zwischen den anderen und streckte seinen Krückstock aus lebendigem Holz wie ein Schwert vor sich aus.
Ni’lahn holte tief Atem und griff in die Saiten. Liebliche Töne schwebten auf das schrille Geschrei zu und kämpften sich weich und melodisch durch den Missklang. »Hört mich, Schwestern«, sang Ni’lahn und stimmte ein in die Musik.
Die Töne glitten über das kalte Wasser und bohrten sich wie tausend Pfeile in die Mauer aus Finsternis. Einzelne Geister heulten auf und ergriffen die Flucht. In der dichten Schwärze taten sich Lücken auf, hinter denen die schneebedeckten Baumwipfel sichtbar wurden. Aber sie blieben nicht lange offen. Die anderen Grim rückten enger zusammen, und bald war die Mauer wieder geschlossen.
Ni’lahn kniff misstrauisch die Augen zusammen. Was trieb die Geister vorwärts? Was hinderte sie, ihrem natürlichen Drang zu folgen und vor jeder Berührung mit dem Wahren Tal zurückzuscheuen?
Ein scharfer Schrei zerriss die Luft. Ni’lahn fuhr herum. Ein einzelner Geist löste sich aus den Reihen und stürmte, ein dunkler Nebelfleck, auf die Gefährten zu.
Rodricko trat vor und schwang seinen Stock, um die Gruppe zu schützen. Ni’lahns Finger verharrten über den Saiten. Sie fürchtete um ihre Freunde.
»Spiel weiter!« drängte Mikela. Die kreischende Stimme war kaum zu ertragen. »Nicht aufhören!«
Rodricko schwenkte seinen Stock vor dem Schatten hin und her. »Fort mit dir!« schrie er ihn an.
Der kühne Geist zögerte, dann schoss er einen schwarzen Strahl auf die Brust des Holzschnitzers ab. Rodricko tänzelte auf seinen schwachen Beinen erstaunlich flink zurück. Sein Stock durchschnitt den tödlichen Schatten. Wo er ihn berührte, flammten Blitze auf, so violett wie die Blüten des Koa’kona Baumes. Der Geist wurde in Fetzen gerissen und flüchtete, ein schäbiger Seelenrest, in die Reihen seiner Schwestern zurück.
Kral stieß einen grölenden Triumphschrei aus.
Aber Mikelas Blick richtete sich auf Ni’lahn. »Spiel weiter! Spiel, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Ni’lahn sah auf ihre Laute nieder und griff mit frischem Mut in die Saiten. Die Geister wanden sich in Qualen, ein Aufschrei folgte dem anderen. Ni’lahn drehte sich langsam im Kreis, um ihre Musik nach allen Seiten ausströmen zu lassen.
»Hört das Lied des Wahren Tales«, sang sie leise, und die Töne trugen ihre Worte weit über die Senke hinaus. »Seht, wie die Frühlingssonne die Schösslinge aus dem Boden lockt … Seht die Hügel am Sommerabend, die bunten Blumen … Seht den Herbst mit seinen kräftigen Farben, die endlos fallenden Blätter, seht nur, wie sie den Boden für den kommenden Winter mit einer wärmenden Schicht bedecken … Spürt den kalten Hauch des Winters, wenn die Säfte langsam fließen und die Sterne wie Silber am Nachthimmel funkeln. Erinnert euch. Erinnert euch an das Tal. Erinnert euch an das Leben!«
Das Lied schlug die Geister in seinen Bann. Die Mauer wogte im Takt mit der Musik. Das Geheul klang nicht mehr so schrill, nun schwangen Trauer und Schmerz darin mit. Überall öffneten sich Breschen in der Finsternis, schwarze
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