Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Schatten stiegen auf und flogen laut weinend davon.
»Es wirkt«, sagte Merik.
Ni’lahn wechselte über in die alte Sprache, ohne ihren Gesang zu unterbrechen. Sie beschwor Blumen und Sonnenschein und Tautropfen am Morgen, während die Laute im Lied des Waldes und im Ruf nach Vereinigung erbebte. Das konnte die Horde selbst mit vereinten Kräften nicht mehr ertragen. Immer mehr Geister ergriffen die Flucht.
Zwei wandten sich, mehr um den quälenden Gesang zu beenden denn aus Bosheit, abermals gegen die Gruppe. Rodricko hatte sie schnell erledigt.
Ni’lahn sang immer weiter. Der Sieg schien jetzt zum Greifen nahe. Sie ließ ihre Stimme anschwellen, da merkte sie, dass sie nicht mehr allein sang. Eine zweite Stimme hatte sich eingeschlichen, sich so geschickt in ihr Lied gemischt, dass es ihr erst auffiel, als es bereits zu spät war. Die neue Stimme kam aus der wankenden Mauer der Finsternis. Sie entstellte das Lied der Nyphai und verwandelte raffiniert und ganz unmerklich alles Helle in Dunkelheit.
»Träumt von der Sonne, die euch mit ihrer Wärme liebkost …«, sang Ni’lahn.
» … und von der endlosen Dürre, die euch verbrennt«, stimmte die körperlose Sängerin ein.
»Singt von den frischen Blüten, so weich wie Seide …«, schlug Ni’lahn zurück.
» … und von den Würmern in ihren zarten Herzen.«
Ni’lahn runzelte die Stirn und bemühte sich angestrengt, die Gegenspielerin zu verjagen. Ihr Gesang wurde kraftvoller, war nun vollends erfüllt von der Stimme des Wahren Tales. Doch die Parasitenstimme ließ nicht locker, sie legte ihr Lied über Ni’lahns Gesang und wisperte von totem Holz und faulenden Wurzeln, bis alle Schönheit zu ersticken drohte. Ni’lahn sah allmählich ein, dass sie unterlegen war. Die andere Sängerin war älter und erfahrener. Das Echo von Jahrhunderten klang aus ihrer Stimme.
Ni’lahn hatte ihr nichts mehr entgegenzusetzen. Misstöne schlichen sich in ihre Stimme; ein Hauch von Krankheit und morscher Rinde durchzog die Klänge ihrer Laute. Rings um die Senke formierten die Geister sich neu und verstärkten die schwarze Mauer.
»Was ist los?« fragte Mikela, drückte das Kind fest an die Brust und trat näher.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ni’lahn. Ihre Finger wurden langsamer, während sie nach einem Ansatzpunkt für einen Gegenangriff suchte. »Da draußen … Da ist irgendetwas … Es ist stärker als ich …«
Kral stellte sich an ihre andere Seite. »Da kommt es schon«, knurrte er.
Mikela sah ihn an, dann wanderte ihr Blick wieder zu den Geisterscharen. Über der Mauer schwebte eine schwarze Wolke, ein formlos brodelnder Nebel, der langsam, aber unaufhaltsam über den See zog. Die kleine Gruppe und die Musik der Laute schienen ihm gleichgültig zu sein.
Ni’lahn und ihre Gefährten wichen zurück.
Die Wolke erreichte das Ufer, ballte sich zusammen und nahm Form an. Am Rand des gefrorenen Sees entstand, noch etwas unscharf, von silbrigen Energiewellen umströmt, eine schlanke Frauengestalt.
Als sie die Augen aufschlug, spürte Ni’lahn: Hier stand die Sängerin, die so gekonnt ihr Lied gestört hatte.
Ferndal knurrte und fletschte die Zähne. Rodricko trat vor und hielt ihr den Ast entgegen.
Die schwarze Frau lächelte nur: »Ein tapferer Ritter, aus Holz geschnitzt«, sagte sie verächtlich. »Der letzte Beschützer des Wahren Tales.« Dennoch hielt sie deutlich Abstand.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Ni’lahn. Sie hatte die schrille Stimme erkannt und wusste auch, wo sie sie zum letzten Mal gehört hatte. »Du bist der Dämon, der in König Ry eingefahren war.«
Das Lächeln der Geistergestalt wurde breiter und zugleich kälter. »Ach ja … es hat mir gut getan, wieder einmal im Fleische zu wandeln.« Sie warf einen Blick auf Tyrus. »Auch wenn der halb verweste Leichnam des alten Mannes eine Ekel erregende Behausung war.«
Der Prinz von Mryl wollte sich auf sie stürzen, aber Kral hielt ihn zurück. »Du hast keine Waffe, mit der du gegen einen Bösewächter etwas ausrichten könntest«, warnte er und ließ den Arm des Prinzen nicht los.
Die Schattenfrau kümmerte sich nicht weiter um die beiden. Ihr Blick richtete sich wieder auf die Nyphai. »Du kennst mich so gut, wie ich dich kenne, Ni’lahn.« Ein freudloses Lachen löste sich von den schemenhaften Lippen. »Damals in der Burg hast du mich überrumpelt. Ich war nicht darauf gefasst, dass du einfach so dort auftauchen würdest. Aber jetzt hatte ich Zeit, mich auf dich
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