Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
See.
Merik zog sich ein paar Schritte zurück bis zum Bug des Schiffes. In Toks blanken Augen spiegelte sich der aufgehende Mond. Merik hatte dem Jungen ein Lied versprochen und wollte ihn nicht enttäuschen.
Der Elv’e setzte sich nicht, sondern lehnte sich mit dem Rücken an die Reling und drückte die Laute gegen seinen Leib. Dann fuhr er mit den Fingernägeln über die Saiten. Laut schallte die Musik durch die ruhige Nacht und übertönte das leise Knarren des Schiffes und das sanfte Plätschern der an den Rumpf schlagenden Wellen. Merik runzelte die Stirn. Schon diese wenigen Töne klangen ungewöhnlich schrill, fast als wollten sie ihn schelten.
Tok kam unter seiner Decke hervor. Auch ihm war aufgefallen, wie sich die Stimme der Laute verändert hatte. Merik spürte, wie Saag wan und Kast sich nach ihm umsahen.
Er drückte die Finger auf das Griffbrett und versuchte, eine seiner gewohnten bittersüßen Weisen erklingen zu lassen, doch die Laute lieferte nur schrille Akkorde, hektisch und misstönend. Merik hielt dagegen, bemühte sich, eine Antwort auf die seltsame Musik zu finden.
Sein Spiel wurde schneller, nicht weil er es so wollte, sondern weil die Musik ihn antrieb. Fast glaubte er, hinter den harten Klängen Trommelwirbel und Schwerterklirren auszumachen. Was war das für ein seltsames Lied? Merik spürte, wie ihm warm wurde. Bald stand ihm trotz der kühlen Nacht der Schweiß auf der Stirn.
»Merik?« fragte Kast vorsichtig.
Der Elv’e hörte ihn kaum. Seine Finger tanzten über den langen Lautenhals, seine Nägel peitschten die Saiten. Dann ließ sich hinter der Musik eine leise Stimme vernehmen. »Ich warte schon so lange …«
Merik hätte die Laute fast fallen lassen, aber das konnte er gar nicht. Er musste weiterspielen. Seine Finger, seine Arme hatten ein Eigenleben entwickelt und gehorchten ihm nicht mehr. Das Instrument hatte ihn in seinen Bann geschlagen. Wieder setzte die Stimme ein, diesmal kräftiger. Sie klang vertraut. »Kommt zu mir …«
»Wer ist das?« Kast hatte offenbar Meriks Not gespürt und wollte nach der Laute greifen.
»Nein!« schrie Merik. »Noch nicht!«
Jetzt sang die Stimme mit den Saiten, so klar wie eine Glocke im Schilf, so deutlich, als stünde die Person vor ihnen auf den Planken. »Bringt die Laute zu mir. Ohne sie ist alles verloren.«
Merik erkannte die Sängerin. Seine Augen wurden groß. Das war unmöglich. Er war selbst dabei gewesen, als man sie begrub. »N Ni’lahn?«
»Bring mir meine Laute, Elv’e. Sie ist die einzige Hoffnung gegen die Grim.«
»Wo bist du?« keuchte Merik.
»Westliche Marken … Steinkogel. Kommt schnell …« Die Stimme wurde schwächer. Meriks Spiel wurde langsamer. Er versuchte das Tempo noch einmal zu steigern, aber die Kraft des Bannes ließ deutlich nach.
»Ni’lahn!« rief er laut und kämpfte mit seinen Fingern. Die schrillen Akkorde zerfielen zu einem misstönenden Durcheinander.
Eine letzte Botschaft quälte sich durch den Lärm. »Zerstört die Tore! Sonst ist alles verloren!«
Dann wurden Meriks Finger von einem Krampf befallen. Die Laute entglitt seinen Händen, aber Tok machte einen Satz und fing das Instrument mit seiner Decke auf, bevor es auf den Planken aufschlagen konnte. Merik sank erschöpft in die Knie.
Kast und Saag wan traten langsam näher. Die junge Mer’ai streckte die Hand nach ihm aus, aber sie berührte ihn nicht. »Alles klar?«
Merik nickte.
»Wer war das?« fragte Kast.
Merik überhörte die Frage. Er konnte sie noch nicht beantworten, nicht einmal für sich selbst. Er drehte sich nur um und sah die beiden an. »Könnt ihr mich in die Burg bringen? Ich muss mit Elena sprechen. Sofort.«
Saag wan wechselte einen Blick mit Kast. Der Blutreiter nickte. Die beiden stellten sich in die Mitte des Decks. Kast zog Stiefel, Hosen und Hemd aus und stand alsbald mit nacktem Oberkörper, nur mit einem Lendentuch um die Hüften vor ihnen.
Saag wan faltete seine Kleider ordentlich zusammen und legte sie auf die Planken, während Merik sich aufrichtete und Tok die Laute abnahm. Dann trat Saag wan vor Kast hin. Der Blutreiter beugte sich nieder und küsste sie innig. Es war ein Abschiedskuss.
Als er sie endlich losließ, glänzten Tränen auf Saag wans Wangen. Dennoch hob sie die Hand, berührte die Drachentätowierung auf der Wange ihres Geliebten und sagte leise: »Ich brauche dich.«
Kast zuckte zurück; die beiden verschwanden in einem Wirbel aus schwarzen Schuppen, silbernen Klauen und
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