Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
bei ihr. Sie hat der Hexe einen Absud aus Schlafkraut bereitet, damit sie Ruhe findet, bis der Mond aufgeht.«
Er’ril nickte und ging auf die Tür zu. Der linke Wächter klopfte leise an und stieß sie dann auf.
Der Raum war schwach beleuchtet. Im Kamin brannte ein winziges Feuer, und auf dem Sims darüber flackerten ein paar dicke weiße Kerzen. Sonst gab es nur noch eine Lichtquelle: ein Reihe von hohen und breiten Turmfenstern, die nach Westen auf den Nachthimmel mit seinen hellen Sternen hinausgingen. Durch eines dieser Fenster sah man jetzt den Mond aus dem Meer steigen.
Im Halbdunkel räusperte sich jemand. Er’ril wandte sich dem Polsterstuhl zu, der vor dem Feuer stand. Dort saß eine alte Frau mit einem dunklen Schultertuch und in einem ebenso dunklen Kleid mit einem Buch im Schoß. Ihr Haar, grau wie ihr Gewand, war zu Zöpfen geflochten und am Hinterkopf aufgesteckt. Mama Freda lächelte Er’ril freundlich entgegen. »Sie liegt nebenan«, flüsterte sie. »Ich wollte sie eben wecken, denn wie ich sehe, geht der Mond auf.«
»So ist es, aber ein paar Minuten können wir sie noch schlafen lassen. Der Mond steht noch nicht voll am Himmel. Sie hat eine lange Nacht vor sich, und auch der morgige Tag wird nicht leicht.«
»Ich habe es gehört. Alaseas Schicksal hängt davon ab, wofür sie sich entscheidet.« Das Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau wurde breiter. Die Vorstellung schien sie zu amüsieren. »Wie sollen diese schmalen Schultern die ganze Welt tragen?«
»Sie wird es schon schaffen«, sagte Er’ril streng.
Das Lächeln bekam einen spöttischen Zug. »Oh, daran zweifle ich nicht. Sie hat schließlich dich.«
Er’ril war über diese Haltung fast empört. »Elena ist stark«, erklärte er, als sei damit alles gesagt.
Mama Freda lehnte sich in ihren Stuhl zurück, worauf Tikal, der zahme Goldmähnen Tamrink auf ihrer Schulter, aufgebracht protestierte. Das Tierchen stammte aus dem Dschungel ihrer Heimat. Es hatte seinen schwarzen Schwanz mit den rötlich goldenen Streifen um den Hals seiner Herrin gelegt. Das winzige Gesichtchen unter der feurigen Mähne war nackt und wurde von zwei riesigen schwarzen Augen beherrscht. »Elena ist stark … stark …«, äffte es Er’ril nach.
Die Frau kraulte den Tamrink hinter dem Ohr, um ihn zu beruhigen. Das Kerlchen war nicht nur der ständige Begleiter der alten Frau, es ersetzte ihr auch das fehlende Sehvermögen. Ohne Augen geboren, war sie schon vor vielen Jahren eine Bindung mit Tikal eingegangen und konnte seither mit seiner Hilfe sehen. Im Augenblick konzentrierte sich der Kleine ganz auf Er’ril. »Stark, sagst du?« neckte Mama Freda. »Du hast das Kind nicht zu Bett gebracht, und du hast ihr auch keine doppelte Dosis Schlafkrautabsud eingeflößt, weil sie sonst keinen Schlaf gefunden hätte. Der Druck, der auf ihr lastet, ist zu groß.«
»Ich weiß nur zu gut …«
»Wirklich? Wie wäre es dann, wenn du sie etwas mehr unterstützen würdest? Ein knappes Wort oder ein Kopfnicken sind nicht immer genug.«
Er’ril akzeptierte den Vorwurf mit hängenden Schultern. Tatsächlich bemühte er sich seit jenem Tanz auf dem Turm, Elena auf Abstand zu halten. Er konnte seine wahren Gefühle nicht verbergen und wollte Elena nicht auch noch diese Last aufbürden.
»Wusstest du, dass morgen Elenas Geburtstag ist?« fragte Mama Freda.
»Wie bitte?« fragte Er’ril, ohne sein Erschrecken verbergen zu können.
Mama Freda nickte. »Ich habe es von ihrem Bruder erfahren.«
»Aber warum hat sie denn nicht …?«
»Weil sie so stark sein will«, sagte Mama Freda und stand auf. »Eine Hexe feiert ihren Geburtstag nicht mit Kuchen und Glückwünschen.« Die alte Heilerin drängte sich an Er’ril vorbei zu einer Seitentür. »Komm. Es ist Zeit, sie aufzuwecken.«
Er’ril folgte ihr nur zögernd. Er kam sich vor wie ein Narr. Fünfhundert Winter war er alt würde er das weibliche Geschlecht denn niemals verstehen? Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
Selbst das unlösbare Rätsel der Wehrtore verblasste neben den Abgründen im Herzen einer Frau!
Elena erwachte, als aus dem Wohnraum ihres Turmgemachs Stimmen drangen. Obwohl sie die Worte nicht verstand, erkannte sie Mama Fredas Tonfall und das knappe Stakkato von Er’rils Standi Dialekt. Sie schloss die Augen und streckte sich. Sie hatte von zu Hause geträumt, von ihrer Mutter, wie sie beim Backen singend in der Küche stand, und von ihrem Vater, wie er lachte, wenn er nach einem langen Tag in
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