Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Seele war verschwunden. Er fiel auf die Knie. »Ich bin frei … wahrhaft frei.«
Eigentlich hätte er vor Freude jubeln müssen, doch stattdessen liefen ihm die Tränen über die Wangen. Die schwarze Rune war verschwunden, weil auch der Stein nicht mehr da war, in den sie eingebrannt war. Sein Inneres war leer. Der Fels, der seine Seele trug, war ihm entrissen worden, das Wehr hatte seine Elementarkräfte restlos aufgesogen.
Ohne sich dessen zu schämen, schlug er die Hände vor das Gesicht und brach in Schluchzen aus. Er hatte seine Freiheit gewonnen, aber sein Erbe verloren.
Und was hatte er erreicht?
Wieder blickte er zu der Statue auf. Sie war unversehrt.
Hinter ihm ertönte ein Schrei. »Kral! Nimm dich in Acht!«
Durch einen Tränenschleier sah er, wie sich der Greif zu ihm neigte, wie sich die schwarzen Lefzen zurückzogen und die Zähne noch weiter hervortraten. Jetzt wusste er, was er mit seiner Tat bewirkt hatte.
Er hatte die Schwarze Bestie von Gul’gotha geweckt.
SECHSTES BUCH
Die Ruinen von Tular
18
Joach blieb am Ufer des Wüstensees stehen und betrachtete die fremde Landschaft. Einen See wie diesen hatte er noch nie gesehen. Anstelle von blauem Wasser erstreckte sich schwarzes Glas nach allen Seiten bis an den Horizont. Joach berührte die harte Oberfläche mit der Zehenspitze, um sich zu vergewissern, dass der See Wirklichkeit war. Bei den Stämmen der Südlichen Ödlande hatte er den Namen Aii’schan, was in der allgemeinen Sprache so viel wie ›Die Tränen der Wüste‹ bedeutete, und er lag zwischen ihnen und der Festung Tular.
»Er ist wie ein gefrorenes Meer«, sagte Saag wan hinter ihm. Kast stand neben ihr. Die beiden trugen Wüstengewänder und Umhänge, die ihr fremdländisches Aussehen verbargen.
Nicht weit von ihnen glitt mit vollen Segeln ein kleines Boot, mit Ballen und Kisten beladen, im Nachmittagswind vorbei. Anstelle eines Kiels hatte es zwei scharfe Stahlkufen, die auf dem Glas hörbar knirschten. In der Ferne waren andere Schiffe zu sehen, die zwischen den Dörfern verkehrten.
Kesla kam ebenfalls ans Ufer und trat zu Joach. »Wenn wir Dallinskrie vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen, müssen wir weiter. Die Tributkarawane bricht bei Sonnenuntergang auf.«
Er nickte und rieb sich den verkrüppelten rechten Arm an der Hüfte. Er litt noch immer unter Phantomschmerzen. Obwohl ihm Greschyms Ungeheuer die Hand abgebissen hatte, wollten die verlorenen Finger nicht aufhören zu jucken und zu brennen.
Hinter ihnen stand Hant neben einem der großen Wüstenmalluken. Sein Schützling, die kleine Scheschon, saß rittlings auf dem Hals des zottigen Tieres, zog es mit einer Hand am Ohr und rief immer wieder: »Klupp, klupp!« Mit diesem wiehernden Lockruf brachten die Treiber die störrischen Malluken zum Laufen. Aber das Tier beachtete sie gar nicht, sondern schnaubte nur verdrossen mit seinen fleischigen Lippen.
Hant tätschelte ihr das Bein. »Lass das arme Vieh in Ruhe, Scheschon. Es ist müde.«
Das sind wir alle, dachte Joach. Sie waren die ganze Nacht unterwegs gewesen, um den Aii’schan bis zum Morgen zu erreichen, und immer noch drängte die Zeit. Die Kinder, die in diesem Mond geopfert werden mussten, sollten am gleichen Abend aus der Stadt Dallinskrie aufbrechen, und Joachs Gruppe musste erst noch den See überqueren.
Scheschon zupfte ein letztes Mal an den Ohren ihres Reittiers, dann lehnte sie sich zurück.
Auf der anderen Seite des Malluks schleppte sich Richald an einer Holzkrücke durch den Sand. Sein Bein war schnell geheilt. Dank der Magik der Elv’en und der medizinisch erfahrenen Wüstenheiler war der gebrochene Oberschenkel in weniger als einem halben Mond wieder zusammengewachsen. Dennoch hätte es Joach gern gesehen, wenn Richald in der Oase Oo’schal zurückgeblieben wäre, um sich um die Elv’en zu kümmern, die beim Angriff auf den Alkazar verwundet worden waren. Aber der Prinz hatte sich nicht davon abbringen lassen, Joach zum Südwall zu begleiten. »Ich habe mich verpflichtet, die Sache bis zum Ende durchzustehen«, hatte er gesagt, »und ich werde mein Wort nicht brechen. Was immer ich an Magik oder anderen Kräften besitze, steht euch in der kommenden Schlacht zur Verfügung.«
Jetzt ging Joach dem Elv’en entgegen.
Richald warf ihm einen leicht gequälten Blick zu. »Da kommt Innsu«, sagte er und zeigte nach Westen.
In der Ferne war eine kleine Sandwolke zu sehen, ein Malluk, das sich in vollem Lauf näherte. Ein zweites
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