Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
das viele Meilen von den baufälligen Ruinen entfernt war, und achtete sorgsam darauf, keinen Zauberbann zu sprechen, der stärker war als unbedingt nötig.
Nun fügten sich die letzten Teile seines Plans endlich zu seiner Zufriedenheit zusammen. Ein kleines Lächeln umspielte seine trockenen Lippen. Im Alkazar hatte er sein Ziel nicht erreicht, aber was er dort erfahren hatte, wog die Verluste auf. Der Junge ist ein Traumbildner. Mehr noch als die gegen ihn aufgebotene Magik war es der Schock über diese Erkenntnis, der ihn in die Flucht geschlagen hatte.
Greschym war mit der Traum Magik wohl vertraut. Schließlich hatte er vor langer Zeit selbst der Ho’fro Sekte angehört, jener Gruppe von Gelehrten, die sich dem Studium von Prophezeiungen verschrieben hatte und die Kunst des Träumens einsetzte, um in die Zukunft zu sehen.
Greschym wandte dem Meer aus schwarzem Glas den Rücken zu und stolperte auf die nahe gelegene Sandsteinwand zu. Es passte ins Bild, dass sich Joachs wahre Fähigkeiten offenbart hatten. Dadurch bekam alles eine gewisse Symmetrie und Ausgewogenheit.
Mehr noch es war eine unvergleichliche Chance.
Greschym trat an den Wall. Aus einer schmalen Öffnung im Sandstein drang ein verräterisches Kratzen und Scharren. Er schlug mit dem Stab gegen den Rand. Die Geräusche verstummten, und eine unförmige Gestalt kam rückwärts herausgekrochen. Zuerst erschienen der Ringelschwanz und die Hinterhufe, dann folgten der stämmige Körper und der Schweinekopf. Die spitzen Ohren zuckten aufgeregt. »M meister.«
»Aus dem Weg, Ruhack.« Greschym bückte sich und spähte in die Höhle, die das Wesen gegraben hatte. Er runzelte die Stirn. Sehr weit in die Tiefe reichte sie nicht.
Der Stumpfgnom hatte die Unzufriedenheit seines Herrn gespürt. Er warf sich zu Boden, ein Harnstrahl durchnässte den Sand. »Stein … hart«, wimmerte er und hob die rauen Hände. Die Krallen waren vom Scharren im Sandstein bis auf das Fleisch abgeschliffen, und von den Fingerspitzen tropfte das Blut.
Greschym richtete sich seufzend auf. Warum musste er sich nur mit derart untauglichen Dienern herumplagen? Er schickte Ruhack mit einer Handbewegung fort. »Die Nacht bricht an. Wenn der Mond aufgeht, werde ich hungrig. Bring mir etwas zu essen.«
»Ja, M meister.« Ruhack eilte davon.
Greschym beugte sich über das Loch, ehe er sich noch einmal umdrehte und dem Gnom nachrief: »Aber keine Wüstenratten mehr! Ich brauche etwas mit mehr Fleisch und Blut.«
»Ja, M meister.«
Greschym bückte sich und kroch in die Sandsteinhöhle. Hier spürte er die Energien, die den Südwall durchströmten. Er hatte diese Stelle gewählt, weil sie von Tular aus gesehen stromaufwärts lag. Hier war der Kraftstrom des Landes noch rein und unvergiftet. Das schwache, verseuchte Rinnsal unterhalb von Tular hätte ihm jedenfalls für diesen ersten Schritt nur wenig genutzt.
Da Greschym die hintere Wand der kleinen Höhle erreicht hatte, ließ er sich langsam nieder, überkreuzte seine krummen Beine und legte sich den Stab auf die Knie. So nahe am wahren Herzen der Wüste schien die Luft förmlich zu glühen, aber Greschym wusste, dass lediglich die Sonne unterging und den Sand in unzähligen Farben erstrahlen ließ.
Der Magiker schloss die Augen und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Er weckte die Elementarkräfte seines Körpers. Sie hatten so lange brach gelegen, dass er sie fast vergessen hatte, aber sie waren noch da. Angehörige der Ho’fro Sekte konnten binnen eines Atemzuges zu träumen beginnen. Greschym ließ die reale Welt mit seinem Atem ausströmen, versank in Trance und wünschte sich in die Traumwüste.
Die Zeit verging.
Wie aus weiter Ferne spürte er, dass die Sterne aufgingen und die Mondscheibe strahlend hell den Himmel erklomm. Und immer noch wartete er.
Endlich spürte Greschym ein vertrautes Ziehen und entfernte sich von den Sternen und vom Mond. Der Weg in die Traumwüste öffnete sich, und Greschym, gesättigt mit Macht, strömte hinein. Er hatte diesen Übergang in den vergangenen Nächten immer wieder vollzogen und dann von ferne beobachtet, wie Joach im leuchtenden Sand seine neu entdeckte Gabe ausprobierte.
Doch heute Nacht hatte er nicht vor, wieder nur untätiger Zuschauer zu sein. Heute Nacht wollte er den ersten Schritt auf einem Weg tun, an dessen Ende er von seinem hinfälligen Körper mit den krummen Knochen und dem verdorrten Fleisch befreit und von neuer Jugendkraft erfüllt zu sein hoffte.
Weitere Kostenlose Bücher